Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
ist es mir gelungen. Ich habe auch vom Stationsarzt viel erfahren. Er hat mich, wie ich es jetzt mit dir tue, auf den Anblick vorzubereiten versucht. Er hat auch wissen wollen, wer ich bin. Dieses Mal konnte ich ihm die Wahrheit nicht verschweigen. Ich erzählte ihm alles, was ich wußte, woran ich mich erinnerte, auch meine Gefühle. Er nahm sich Zeit, hörte aufmerksam zu. Als hätte Şebnem bei ihm einen besonderen Platz. Er sagte, solche Abbrüche gäbe es. Seit Jahren spräche sie nicht. Nur manchmal reagiere sie mit einem bitteren Lächeln auf etwas Gesehenes und Gehörtes. Das sei alles …«
In dem Augenblick brauchte er eine Pause. Auch ich mußte ehrlich gesagt ein wenig Atem schöpfen. Es war nicht leicht, innerhalb so kurzer Zeit eine so große Last aufgeladen zu bekommen. Hätte er nicht wieder zu sprechen angefangen, hätten wir sicherlich lange stumm dagesessen. Doch nach kurzer Unterbrechung fuhr er fort. Offensichtlich hatte er noch mehr zu erzählen.
»Während des ganzen letzten Jahres habe ich sie oft besucht. Wenn ich keine Touren hatte, bin ich häufiger hergekommen. Manchmal haben wir uns auf eine Bank gesetzt, manchmal waren wir in ihrem Zimmer … Du wirst es selbst sehen, tatsächlich wohnen immer vier Personen in einem Zimmer. Doch wenn du das Zimmer betrittst, siehst du sofort, wo ihr Schlafplatz ist. Die Wand um ihr Bett herum ist vollgehängt mit ihren Bildern. Als wäre das Bild die einzige Verbindung zu ihrer weit entfernt scheinenden Vergangenheit. Da braucht sie nicht zu sprechen, um sich auszudrücken. Der Arzt nimmt sehr wichtig, was sie tut. Deswegen ermuntert er sie sehr zum Malen, er sagt sogar, man könne mit diesen Bildern eine Ausstellung eröffnen. Tagsüber, wenn alle hinausgehen, sind die Zimmer leer. Ich habe mit ihr auch viel in dem Zimmer geredet. Geredet, geredet, geredet … Und sie hat zugehört, oder es sah so aus. Sie hörte zu, aber sie schwieg, immer. Ich habe ihr alles gesagt, was mir einfiel. Was ich erlebt habe in den Jahren, als wir getrennt waren, auseinandergerissen waren. Als machte ich Inventur von meinen Tagen, meinem Leben … Als legte ich sowohl ihr als auch mir Rechenschaft ab …«
Er sprach weiter. Doch in dem Moment, als er erzählte, was er in jenem Zimmer erlebt hatte, glitt ich ungewollt in eine andere Zeit, ich klinkte mich schweigend aus. Den Rest hörte ich nicht mehr. Mich zogen nicht nur die Augen von Şebnem fort, ihre Blicke und ihre Stimme, die mich zutiefst aufwühlten. Das Gehörte war der Anstoß, mich mit einer sehr schmerzlichen Eventualität auseinanderzusetzen. War diese Frau, die sich verabschiedet hatte, die anscheinend nur noch mit ihrem Körper auf der Welt war, in Wirklichkeit einst mir in einem tiefen, unausgesprochenen Gefühl verbunden gewesen? … Wenn der Schluß richtig war, den ich aus dem Gehörten zog, wie sollte ich damit fertig werden? … Mußte ich diese Tatsache dann nicht für einen weiteren Fehler meines Lebens halten? … Ich durfte mich nicht von dieser Idee gefangennehmen lassen. Ich mußte vielmehr Hoffnung zum Handeln schöpfen. Die Hoffnung, Şebnem ins Leben zurückzuholen … So kaputt wir auch waren … In der Kraft, die mir meine Gefühle gaben … Indem ich meine Bemühungen zugleich ansah als Kampf, meinem eigenen Leben einen Sinn zu geben …
Weiter kam ich nicht. Wieder wurde ich von ihm zurückgerufen. Er wollte wissen, was ich dachte. Ich konnte nicht sagen, was ich fühlte, gesehen hatte. Ich versteckte mich hinter anderen Fragen. Doch das waren keine Fragen um des Fragens oder um der Ausflucht willen. Ich brauchte so viele Anhaltspunkte, um einen Weg zu finden beziehungsweise in dieser neuen Finsternis gehen zu können … Waren wirklich die Verbindungen zu der Welt, in der sie gelebt hatte, gänzlich abgerissen? … Oder … Oder hatte sie vollkommen bewußt, absichtlich das Schweigen gewählt? … Hatte sie sich in ihre innere Welt verschlossen, um die Menschen in ihrer Umgebung zu beobachten, nur zu beobachten? … Konnte sie, mit anderen Worten, sehen, hören, verstehen? … Die Antwort auf meine Fragen zeigte, daß auch Necmi ähnlichen Möglichkeiten nachspürte. Das Gesamtbild machte aber eher den Eindruck, daß sie den Schock sehr tief erlebt hatte. Konnte insofern ihre Malerei ungefähr so etwas wie einen Widerstand, einen Rückzug in die andere Welt, eine Ecke ihrer Kindheit, bedeuten? … Vielleicht wollte sie sich immer noch mitteilen. Noch immer sich mitteilen und eine
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