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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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hinaus und liefen ein wenig. Zafer Bey erblickte sie als erster. Er faßte meinen Arm, zeigte auf den Platz, wo sie saß, und sagte, es sei besser, ich ginge alleine zu ihr hin. Ich zögerte. Er lächelte, nickte leicht und zwinkerte mir zu. Diese Blicke waren nicht nur ermutigend gemeint, sondern bedeuteten auch, daß ich jetzt handeln sollte. Es war soweit. Ich schaute zu Necmi. Auch dieser schien mich mit Blicken zu ermutigen. So sollte ich Şebnem endlich wiedersehen, die ich seit Jahren nicht gesehen, aber sehr vermißt hatte; nachdem ich mich viele Male gefragt hatte, wo und mit wem sie lebte und was sie erlebt hatte. Noch einige Sekunden. Ein paar Schritte … Sie saß mit dem Rücken zu uns. Ich näherte mich langsam. Sie trug einen Hut auf dem Kopf. Als ich nahe bei ihr war, hielt ich ein wenig an, dann setzte ich mich neben sie, wobei ich mich bemühte, kein Geräusch zu machen. Ich schaute ihr ins Gesicht. Sie schien nicht gealtert. Vielleicht waren da ein paar Falten … Mehr nicht … Als wäre die Zeit für sie stehengeblieben. Doch ihre Blicke … Sie zerrissen einem irgendwie das Innerste. Diese ergreifenden schwarzen Augen schauten in weite Ferne. In weite Ferne, vielleicht in einen Abgrund … Es schien, als habe sie bemerkt, daß ich gekommen war und mich neben sie gesetzt hatte. Sie schaute, sie schaute unbewegt irgendwohin. Ich überlegte, was ich sagen sollte. Ich konnte ebenfalls nicht sprechen. Dann drängte es mich, sie an der Schulter zu berühren. Schüchtern, ohne zu wissen, wie sie reagieren würde, und doch natürlich in Erwartung einer Reaktion … Als sie meine Hand auf ihrer Schulter spürte, drehte sie sich zu mir. Ihre Blicke waren in der Ferne, ja sehr weit weg … Ich schluckte. Ich konnte nur schwer an mich halten, um nicht zu weinen. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Sie lächelte leicht. Oder sie schien mir in diesem Augenblick leicht zu lächeln. Als lächle sie von einem anderen Ort und einer anderen Zeit her … Plötzlich fiel mir ein, was Necmi erzählt hatte. Ich schaute hinter mich. Sie waren nicht dort. Sie hatten mich lieber mit ihr allein gelassen. Dieses Alleinsein war entlastend. Ich überließ mich der Spontaneität, die aus dem Gefühl des Nichtbeobachtetwerdens entstand. Deswegen konnte ich intuitiv und natürlich sagen, was mir in dem Moment gerade einfiel. Ganz schlicht …
    »Grüß dich, Şebnem, ich bin gekommen …«
    Sie schaute, schaute lange. Es schien, als lächle sie weiterhin. In derselben Erstarrung, derselben Ferne … Erstarrt, fern, ohne Reaktion. Ich fuhr fort, indem ich jetzt nicht nur zu ihr, sondern auch zu mir selbst sprach:
    »Es ist unendlich lange her … Ich … Wenn ich Bescheid gewußt hätte, wäre ich schon früher gekommen. Eigentlich habe ich gar nicht viel gemacht …«
    Ich beabsichtigte, sie zum Lachen zu bringen, und bemühte mich, meine Ratlosigkeit und zunehmende Unsicherheit zu verschleiern. Ihre Blicke veränderten sich nicht. Wie Necmi gesagt hatte, war es unmöglich, aus diesen Blicken zu entnehmen, ob sie meine Worte verstand, ja ob sie mich überhaupt hörte. Sie schien sich irgendwo vergraben zu haben. Mit ihren fernen Blicken und ihrem Lächeln … Ich sagte, der Hut stünde ihr sehr gut. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Diese Starre war furchtbar, wurde mir immer erschreckender. Plötzlich hätte ich ihr am liebsten gesagt, daß ich jenen Abend nie vergessen hatte. Doch ich konnte nicht. Ich würde diese Ferne nicht länger ertragen können. Mit einem Anflug von letzter Hoffnung konnte ich nur noch sagen, daß ich sie von nun an nie wieder allein lassen würde. Langsam stand ich auf. Ich schaute mich um. Es war niemand da. Ich ging zur Station zurück. Necmi und Doktor Zafer waren im Stationszimmer. Ich setzte mich wortlos zu ihnen. Eine der Schwestern fragte mich, ob ich Tee trinken wolle. Ich wollte. Auf diese Weise konnte ich Zeit gewinnen, eine Grundlage schaffen, um das, was ich erlebt hatte, besser zu verstehen. Ich fragte Zafer Bey, ob man erfassen könne, was ein Mensch fühlte, der auf diese Weise weit entfernt sei. Vielleicht war das eine unnötige, eine sinnlose Frage. Dennoch blieb ich nicht ohne Antwort:
    »Wir wissen es nicht. Sicherlich hat sie sich ihre eigene Welt geschaffen. Wir achten darauf, daß sie regelmäßig ihre Medikamente nimmt. Wir tun unser Möglichstes, ihren Lebenswillen zu erhalten, so wie bei allen unseren Kranken …«
    Daraufhin fragte ich, ob in solchen Fällen

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