Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
Vom Netzwerk:
in seinem Gesicht. Ich konnte nicht ahnen, was er mir zeigen wollte, doch ich widersprach nicht, zumal seine Aufregung auf mich übergesprungen war. Ein angenehmer Ton drang in mein Ohr. Ein Geräusch wie beim Aufziehen einer Uhr … Das Spiel gefiel mir. Als ich ihn lächelnd, aber zugleich auf eine Erklärung wartend ansah, sagte er leise, als verrate er ein Geheimnis: »Die ist automatisch, automatisch! Die brauchst du nicht mehr aufzuziehen. Es reicht, wenn du den Arm so schwenkst. Das ist alles!«
    Ich konnte sehen, wie sich die Technik entwickelt hatte. Er sagte nicht, daß sein Geschenk Schweizer Ware sei. Er sagte auch nicht, daß sie wasserfest sei. Beides stand sowieso hinten drauf. Ich trug die Uhr jahrelang am Arm, setzte sie jedoch niemals der Gefahr eines Tests aus, entweder weil mir jene Augenblicke für mein Leben sehr kostbar schienen oder weil ich ihn nicht traurig machen wollte. Einige Zeit nach Cousin Mordos Tod begrub ich die Uhr in meiner eigenen Geschichte. Als mein Vater an jenem Abend die Uhr an meinem Arm sah, wandte er sich an seinen Cousin, und vor meinem Großvater, der gekommen war, um zu sehen, ob ich die Gebete richtig gelernt hatte, die ich am nächsten Tag während der Feier in der havra rezitieren sollte, und meiner Großmutter mütterlicherseits, die ihn begleitete, um die Kleidung, die ihre Tochter anziehen wollte, bis ins Detail zu inspizieren und nicht den kleinsten Fehler hinzunehmen, sagte er: »War es denn nötig, soviel Geld auszugeben, du Stenz!«, womit er die Sache spaßig, mit gespieltem Ernst beenden wollte, was mich hingegen wiederum ärgerte. Er versuchte Überlegenheit zu markieren. Sein Cousin hatte ja nach seinem Zusammenbruch bei ihm Zuflucht gesucht … Doch der Kern der Sache zeigte sich gerade hier, und vielleicht spürte er das selber. An jenem Abend wankte in Wirklichkeit seine Autorität. Damals konnte ich diese Tatsache natürlich nicht wirklich erkennen. Doch ich sagte, zum einen durch das Selbstvertrauen gestärkt, das mir die Uhr an meinem Arm verlieh, zum anderen, um diesem Mann mit seiner zarten Dichterseele beizuspringen, der, unverdient beschämt durch die an ihn gerichteten Worte, keine Antwort fand: »Cousin Mordo hat ein reiches Herz«, und alle lachten. Sogar mein Vater konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Jener Abend war sowieso einer von unseren glücklichen Abenden. Am folgenden Tag würde ich nicht nur für religionsmündig erklärt werden und in der Gemeinde meinen Platz als vertretungsberechtigter Mann einnehmen, ich würde auch meinen Eltern, indem ich ihnen in meiner Ansprache in der havra danken würde, zum erstenmal Anlaß zur Freude geben und sie vor Beglückung weinen lassen. Zugleich würden diese Feier und das darauf folgende pompöse Festmahl Gelegenheit bieten, den Reichtum der Familie, ihre Stärke, zur Schau zu stellen. Wie bei anderen Familien auch, die in anderen Feiern in anderen Traditionen und Glaubensüberzeugungen diese Art von Selbstdarstellung nötig haben … Meiner Mutter konnte ich den Stolz vom Gesicht ablesen. Wir waren inzwischen zu Wohlstand gelangt. Meine Mutter konnte ihre Kleider bei dem Modemacher Yıldırım Mayruk schneidern lassen, eines für die Feier in der havra , ein anderes für das Festmahl, zu dem wir am Abend einladen würden … Wir würden am Abend im Club Rouge et Noir feiern, der in jener steilen Gasse lag, die damals Emlak-Straße hieß und die später, nach einem der bittersten und dunkelsten Morde in der Geschichte der Republik, den Namen Abdi-Ipekçi-Straße bekam. Der Club bestand viele Jahre hindurch und hat sich ins Gedächtnis vieler Menschen mit vielen Erinnerungen und Gesängen eingeprägt … Jene Uhr brachte mir diese Erinnerungen und Bilder zurück …
    Ohne es zu wollen, war ich lange in die Vergangenheit eingetaucht … In der Schublade versteckten sich noch andere Objekte, die mich in verschiedene Tiefen hinabzogen, jedes einzelne an eine andere Zeit und Einzelheit erinnernd … Halbvolle Tagebücher aus verschiedenen Epochen, denen irgendwann der Atem ausgegangen war … Ich ließ sie liegen. Ich kannte den Inhalt mehr oder weniger und wollte sie nicht aufs neue lesen. Ein alter, runder Schreibmaschinenradiergummi … Dieser Radiergummi erinnerte mich an die Zeit, als ich noch als Schüler in den Laden kam, beziehungsweise mich mein Vater herbrachte, damit ich ›mich daran gewöhnte‹. Bei diesen Besuchen tippte ich am liebsten auf einer alten Schreibmaschine der Marke

Weitere Kostenlose Bücher