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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Gefühl, von sehr weit her auf das zu blicken, was ich sah. Die Bilder waren überhaupt nicht mehr erregend … Sie reizten lediglich zum Lachen … Wo hatte ich jene heißen Augenblicke gelassen?
    Die beiden Armbanduhren in der Schublade riefen mich ebenfalls an bestimmte Punkte der Vergangenheit. Die eine hatte mein Vater mir zur Belohnung für das bestandene Eintrittsexamen in die französische Schule geschenkt, wobei er die Wasserfestigkeit des Geschenks gerühmt und es als ›Schweizer Wertarbeit‹ bezeichnet hatte. Ich wußte nicht, was ›Schweizer Wertarbeit‹ bedeutete, doch ich merkte, daß er mich mit diesem Ausdruck auf die Qualität und, noch wichtiger, den von ihm bezahlten hohen Preis hinweisen wollte. Es sei auch nötig, die Uhr jeden Abend vor dem Schlafengehen aufzuziehen. Sonst würde sie unweigerlich am nächsten Tag stehenbleiben. So war das also auch ein Teil seiner Disziplinierung meines Lebens. Seine Worte und das, was er von mir zu tun verlangte, erschienen mir blödsinnig. Zudem konnte ich an die Wasserfestigkeit der Uhr irgendwie nicht glauben. Nachdem die Worte eines Freundes aus unserem Wohnviertel meine Zweifel noch verstärkt hatten, entschloß ich mich, jenen Versuch zu machen. Mein Vater sagte auf meine Frage, ob ich mit dieser Uhr ins Meer gehen könne, selbstverständlich könne ich das, doch man wisse ja nie, und der Mensch solle im Leben manche Dinge nicht zu sehr forcieren – weshalb es mir sehr verführerisch erschien, das Unerwünschte zu tun. Ich erfand eine Ausrede. Ich würde sagen, ich habe vergessen, vor dem Baden im Meer die Uhr abzumachen. Mein Vorhaben verwirklichte ich am Strand von Caddebostan an einem Samstagmorgen und erlebte einen heimlichen Triumph, als, bald nachdem ich aus dem Wasser gestiegen war, das Glas des kleinen Objekts, das mir mit jedem Blick, den ich darauf warf, einen unliebsamen Aspekt der Zeit zeigte, anfing sich zu beschlagen. Das wertvolle Schweizer Erzeugnis hatte Wasser gezogen und blieb nach einigen Tagen sogar stehen. Meister Kadir, der in einem der kleinen hüttenartigen Läden, die sich in der steilen Aşirefendi-Gasse in Sirkeci aneinanderreihen, seit vielen Jahren Uhren reparierte, schaute sich die Sache an, nachdem er sorgfältig wie immer das Vergrößerungsglas auf sein rechtes Auge gesetzt hatte, und in ruhigem Ton, der das Ding in seiner Hand gleichsam ein wenig herabsetzte, sagte er, die inneren Teile seien völlig verrostet und nicht mehr zu reparieren. Bei unserer Rückkehr in den Laden bekam ich von meinem Vater die erwartete Ohrfeige. Er war sehr wütend. War er ärgerlich, weil ich sein Wort nicht befolgt oder weil ich den Wert der Uhr nicht geachtet hatte oder weil sein Sohn so dumm war, mit dieser Uhr ins Meer zu gehen, oder weil seine Lüge irgendwie herausgekommen war? … Alle Möglichkeiten kamen in Betracht. Die Ohrfeige war ziemlich schmerzhaft, und mir war klar, er würde mich strafen, indem ich lange Zeit ohne Uhr bleiben mußte, doch andererseits war ich insgeheim außerordentlich froh, ihm dies angetan zu haben. Meine zweite Uhr sollte ich erst zwei Jahre später zu meiner Bar Mitzwa bekommen. Dieses Mal war Cousin Mordo der Schenkende. Und zudem mit einem ganz anderen Gehabe als mein Vater, mit einer Zartheit, die gut zu ihm paßte. Er kam am Vorabend der Feier, die in der havra von Şişli an einem kalten, regnerischen Samstag stattfinden sollte, zu uns nach Hause und zu mir ins Zimmer, als wollte er mich zum Komplizen einer Schuld machen, und forderte mich mit seiner trotz aller Enttäuschungen kindlich gebliebenen Stimme und schüchternen Blicken auf, das kleine Päckchen zu öffnen, das er mir reichte. Als ich seiner Aufforderung aufgeregt und ein wenig ungeduldig nachgekommen war, sah ich diese Uhr, die mich begeisterte. Ich war überwältigt. Als Cousin Mordo meine Ergriffenheit sah, war auch er gerührt. Doch seine Worte waren noch erschütternder. Er habe die Ohrfeige, die ich im Laden bekommen hatte, nicht vergessen und seit jenem Tag immer auf diesen Moment gewartet. Nun umarmte ich ihn fest. Ich bemerkte, daß es ihm sehr schwer fiel, seine Tränen zurückzuhalten. Wer weiß, woran er dachte. Er dehnte den Augenblick jedoch nicht zu lange aus, um womöglich nicht allzusehr von den Gefühlen überwältigt zu werden. Er nahm die Uhr aus ihrer Schachtel und befestigte sie an meinem Arm. Dann sagte er, ich solle den Arm schlenkern und dann die Uhr an mein Ohr halten. Es lag immer noch kindliche Aufregung

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