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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Stimmen, Gerüche und alten Geschmäcker wieder erinnerte. Ich hatte nämlich einen Zustand erreicht, wo ich jeden fernen Augenblick in die Gegenwart rufen, zurückholen konnte. Dieser Zustand war erschreckend. Ich wiederholte mir immer wieder, daß ich nicht in den Abgrund stürzen dürfe. Ich beendete mein Frühstück und war sozusagen bereit für einen neuen Tag. Als ich aus dem Haus ging, schliefen die anderen Bewohner noch. Meine Verschlafenheit jedoch, auf die ich jahrelang vertraut hatte, in die ich mich verkrochen hatte, war von mir gewichen. Ich wußte, ich würde an jenem Morgen nicht einfach nur in den Laden gehen wie an den anderen tief verschlafenen Morgen. Mich trieb jetzt eine höchst bedeutungsvolle Begeisterung an …

Chansons und der Inhalt jener Schublade
    Die Straße war wie immer voller Menschen. Ein jeder wollte irgendein Ziel erreichen. Was wollte man erreichen und warum? … Die Frage riß mich erneut von meinem gegenwärtigen Augenblick los und führte mich weit fort. In dieser Ferne konnte ich mit einem anderen Aspekt meines Selbst konfrontiert werden. Ich wollte jedoch nicht so weit gehen. Es reichte mir, woran ich mich bei meinem Frühstück erinnert hatte. Nicht umsonst hatte ich mich in so ein Abenteuer gestürzt. Ja, das ›Spiel‹ mußte aufs neue gespielt werden, unbedingt. Obwohl ich wußte, der Vorhang konnte je nachdem, was passierte, auch für einen anderen Schluß fallen … Nichts mehr würde so sein, wie es war, um es mit einem allzu verbrauchten, sinnentleerten Ausdruck zu sagen. Wie hätte das auch sein können? … Ich hatte mit anderen Menschen an anderer Stelle ein Leben begründet, an das ich glauben wollte. Höchstwahrscheinlich galten diese Gefühle auch für die anderen Spieler der ›Truppe‹ … In welchem Maße, inwieweit konnten wir einander dann die Echtheit und Aufrichtigkeit jener unserer fernen Tage schenken? Mir schien, daß zumindest Şebnem ihren Platz nicht wie früher unter uns einnehmen konnte. Ich hatte im Ohr, was der Arzt gesagt hatte. Erwarten Sie keine vollständige Heilung … Wir waren ja nicht in einem alten türkischen Film, wo Wunder geschehen. Das war mir klar. Dennoch waren in mir eine seltsame Hoffnung und Widerstandskraft, die ich nicht erklären konnte, nur erleben, tief erleben und nicht hinterfragen wollte. Ich glaubte einfach fest daran, daß Şebnem irgendwie zurückkehren würde, mußte … Ich würde dafür kämpfen, soweit es mir möglich war. Die Begeisterung für den Kampf reichte schon aus, mich zu beleben. Denn der Kampf war auch ein Kampf mit mir selbst. Ich fühlte, wie mir in der Finsternis wieder ein kleines zitterndes Licht leuchtete. Und ich wollte mich so gut wie möglich vorbereiten auf das, was das Licht mir zeigen würde …
    Inzwischen befand ich mich in dem erdrückenden Gewühl von Bahçekapı, wo ich meinen Wagen auf den Parkplatz stellte. Ich schaute den Menschen um mich herum ins Gesicht. Wer weiß, wie viele Menschen es gab, die mit einem inneren Kampf, der nicht immer sichtbar wurde, einen neuen Tag begannen … Es war mir, als hörte ich meine Großmutter mütterlicherseits sagen, daß jedes Haus ein Geheimnis habe. Plötzlich breitete sich eine bittere Freude in mir aus. Vielleicht war es eine Hoffnung. Vielleicht betrat ich den Laden deswegen an diesem Morgen mit einem anderen Gefühl als an anderen Tagen, mit neuer Begeisterung und lächelnd. Fehmi hatte die Zeitung gekauft und auf meinen Tisch gelegt. Alles sah gründlich gereinigt aus, die Böden frisch gefegt. Das war für Fehmi, dessen Tag im Laden früher als meiner begann, eine der wichtigsten Zeremonien. Dann brachte er mir meinen Kaffee, und wenn keine Arbeit zu tun war, löste er die Rätsel in der Zeitung. Denn Rätsellösen hielt seiner Ansicht nach geistig frisch. Man mußte diese Ordnung trotz aller möglichen Störungen des Alltagslebens bewahren. An jenem Morgen war ich jedoch nicht willens, die gewohnte Ordnung einzuhalten. Ich mochte an jenem Morgen weder meinen Kaffee mit Behagen trinken noch in der Zeitung die Kolumnen der von mir geliebten Kolumnisten lesen. Ich setzte mich an meinen Tisch, öffnete die Schublade, in die ich jene alten ›Dinge‹ getan, versteckt hatte, die ich irgendwie nicht hatte wegwerfen können, und begann meine Suche. Zuallererst stieg mir ein Geruch von Altem in die Nase. Vielleicht wollte ich auch diesen Geruch riechen. Was fiel mir nicht alles in die Hände … Zwei Kugelschreiber, deren Tinte völlig

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