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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Remington Witze und ging gerne mit dem Vater zum Mittagessen zum Rumeli Köftecisi in Sirkeci. Die Schreibmaschine gab es nicht mehr. Ich weiß nicht, wo sie hingekommen, wie sie verlorengegangen ist, aber sie ist verschwunden. Der Rumeli Köftecisi existiert noch am selben Platz. Zumindest der eine oder andere Geschmack hat sich in dieser Stadt trotz aller brutalen Veränderungen erhalten.
    So hätte mich jedes Ding in der Schublade irgendwohin oder von einem zum anderen Ort bringen können. Diese Gegenstände aus meinem Leben zu entfernen, hatte ich nicht übers Herz gebracht, nicht den Mut gehabt. Ich hätte meine Reise in die Vergangenheit fortsetzen können. Doch plötzlich fiel mir der Ohrring in die Hände. Die Suche war zu Ende. Es war sowieso verwunderlich genug, wie ich so lange ausgehalten hatte und auf dem Weg in meine Vergangenheit an anderen Stellen hängengeblieben war. Vielleicht hatte ich die Begegnung ganz bewußt hinausgezögert. Um mich vorzubereiten auf das, woran mich der Anblick erinnern würde … Ein anderer Mensch hätte womöglich keins der Erinnerungsstücke in der Schublade für wichtig genommen und wäre sofort auf das Ziel losgesteuert. Ich hatte nun mal diesen bedächtigen Wesenszug, den viele Menschen nur schwer verstanden. Doch wie, bis wann konnte ich in diesem Moment ruhig bleiben? … Vor mir lag der kleine, mit seinem roten Stein ein wenig kindlich anmutende Ohrring, der mich in eine ganz andere und vor allem viel dunklere Tiefe rief. Ich nahm ihn vorsichtig in die Hand und umfaßte, drückte ihn. Für Şebnem … Um mich noch einmal an Şebnem binden zu können … Ich versuchte zu lächeln. Es war, als ginge ein Tod durch mich hindurch. Fast hätte ich geweint. Andererseits durfte ich nicht vergessen, daß ich mit der Kraft dieses kleinen Ohrrings auf eine Hoffnung zugehen konnte. Es war keineswegs sinnvoll, mich nur auf das Leid, ausschließlich auf das Leid zu fixieren …
    Ich bat Fehmi, mir meinen Kaffee zu bringen. Er war ein künstlerisch veranlagter, junger Mann, zart besaitet, zuverlässig. Er trug die Last des Ladens still und bemühte sich um Distanz zu seiner Umwelt. Eigentlich war er nicht besonders geschickt. Man konnte ihn sogar ein wenig unbeholfen nennen. Doch am Morgen öffnete er den Laden, bereitete ihn für einen neuen Tag vor, und in den folgenden Stunden rannte er unermüdlich hierhin und dorthin und tat, was man von ihm verlangte. Am Abend jedoch spielte er kanun , die Zimbel, in Nachtlokalen und Clubs, deren Namen er auf keinen Fall verraten wollte, um ein bißchen Geld dazuzuverdienen und für seine ältere Schwester, die nach seinen eigenen Worten ›für verrückt erklärt‹ worden war und die ihm seine Mutter auf dem Sterbebett anvertraut hatte, Medikamente zu kaufen … Zumindest war dies die Version seiner nächtlichen Arbeit, die er mir jahrelang darbot. Wann und wie lange er schlief, war mir unklar. Ich fragte auch nicht nach … Ich erlaubte ihm nur, etwas früher mit der Arbeit aufzuhören. In der Absicht, ihm eine kleine Ruhepause zu gewähren … So verstanden wir uns. Wir schlossen den Laden sowieso nicht sehr spät. Am Nachmittag bereiteten wir uns manchmal um fünf, allerspätestens um sechs auf den Feierabend vor. Ich tat mein möglichstes, damit er die Arbeit durch solch einen Verlauf ertragen konnte, und um mich selbst nicht gänzlich der Arbeit, die ich nie richtig geliebt hatte, zu verschreiben … Ich mochte an ihm auch seine künstlerische Ader, über die er nicht viel redete. Und ich bemühte mich, ihn meine Zuneigung spüren zu lassen. Das war wahrscheinlich der Grund, weshalb er viel länger als erwartet bei mir geblieben war. Mir war auch bewußt, daß er sein nächtliches Leben mehr liebte, obwohl es ihm Schmerz bereitete. Deswegen war ich überzeugt, er würde eines Tages dem Nachtleben den Vorzug geben.
    Mein Kaffee kam nach kurzer Zeit. Ich zündete mir eine Zigarette an. Den Ohrring legte ich vor mir auf den Tisch. Ich versuchte, mir jene Nacht in Tarabya noch einmal in Erinnerung zu rufen. Und den Moment, als sie mir den Ohrring in die Hand gab … In der Hoffnung, eine andere Einzelheit zu erkennen … Ich konnte wieder einmal aus Herzensgrund an das Walten des Schicksals glauben. Hatte Şebnem mir dieses Schmuckstück ›anvertraut‹, weil sie tatsächlich Jahre im voraus gespürt hatte, daß eine Katastrophe über sie kommen würde? … Allein der Gedanke an diese Möglichkeit genügte, mich zu peinigen …
    Ich

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