Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
versuchte, ein wenig Abstand zu gewinnen von dem Punkt, an den ich gelangt war. Schnellstens erledigte ich die an diesem Tag notwendigen Arbeiten. Die Angelegenheiten des Ladens interessierten mich nicht mehr besonders. Ich mußte mich auch nicht viel darum kümmern, wenn keine außergewöhnlichen Probleme auftraten. Das Ganze lief längst von selbst. Jeder wußte, was zu tun war. Deswegen machte ich mir keine Sorgen, wenn ich eine Weile die Zügel schleifen ließ. Meine wichtigste Sorge war jetzt, bis wohin dieses Abenteuer führen würde. Ich zweifelte nicht, daß ich Niso mit Hilfe von Çela aufspüren konnte. Sie hatte einen großen Bekanntenkreis … Freilich wußte ich nicht, in welcher Lage, in welchen Lebensumständen ich ihn finden würde. Mir blieb nichts übrig, als an den alten Niso zu glauben, den Niso in meiner Erinnerung. Vielleicht konnte Çela auch helfen, Şeli zu erreichen. Und ich war mir sicher, daß Necmi auch die Spur von Yorgos aufnehmen würde, wenn der in Athen oder irgendwo in Griechenland war. Ihm würde er nicht entkommen. Was immer Yorgos auch erlebt haben mochte, seine Beziehungen hatte er wahrscheinlich nicht gänzlich gekappt. Ich fragte mich in diesem Moment noch einmal, warum es mir wahrscheinlich erschien. Ich erinnerte mich, daß er davon gesprochen hatte, nach der Schule nach Paris zu gehen. Dort hatte er vielleicht ein ganz anderes Leben angefangen. Vielleicht war er auch in Istanbul. Wir hatten jedoch keine andere Wahl, als auf unser Gefühl zu vertrauen und uns blindlings den Weg entlangzutasten. Wieweit würde es mir auf meiner Reise zu Şebnem helfen, an dieser Maxime festzuhalten? Ich hatte sie ja erreicht. Doch was war das für ein Erreichen, wie weit ging es? … Zu anderer Zeit hätte das, was ich gesehen hatte, mehr als ausgereicht, mir den Mut zu nehmen. Doch die Zeiten hatten sich inzwischen völlig verändert. Zudem hatte auch ich mich so sehr verändert, daß ich mich über mich selbst wunderte. Ja, ich würde so weit gehen, wie ich konnte. Als wäre ich nie so entschlossen, und vor allem so bedenkenlos gewesen. In der Geschichte, die mich zu dem ›Spiel‹ hinführte, hatte jener Todesanhauch, von dem ich niemandem erzählen konnte, den ich schweigend zu erleben mir das Wort gegeben hatte, mir diese Seite meines Selbst gezeigt. Ich mußte aus diesem beschädigten Glück herausholen, was herauszuholen war. Ich hatte mich auf unerwartete Weise auf den Weg gemacht und würde ihn fortsetzen, mutig gegenüber allen überraschenden Hindernissen. Ich sagte mir, ich müsse voranschreiten trotz aller Mauern, die womöglich von anderen aufgerichtet würden. Vielleicht konnte ich so die Mauern überwinden, die ich gegen mich selbst errichtet hatte …
Aus der Kraft, die mir diese Zuversicht verlieh und weil ich wußte, daß ich nun keinerlei Aufschub mehr ertragen könnte, rief ich sofort Zafer Bey an. Ich versuchte, meine Stimme kämpferisch entschlossen klingen zu lassen. Ich sagte, ich wolle Şebnem wiedersehen. Er sagte, ich könne jederzeit kommen, mein Interesse mache ihn glücklich. Ich wollte am nächsten Morgen hinfahren. Dieses Mal, bei dieser neuen Reise zu Şebnem, mußte ich ein bißchen besser ›ausgerüstet‹ sein. Ich ging los, um in der Nachbarschaft einen kleinen, tragbaren CD -Player zu kaufen. Als ich abends nach Hause kam, wählte ich aus meiner Sammlung einige CD s von Georges Moustaki und ein paar von Charles Aznavour aus. Es hatte eine große Bedeutung für mich, mit diesen Chansons anzufangen. Und wie war es für sie? … Würde ich sie mit diesen Liedern berühren, sie meine Stimme hören lassen? … Das konnte ich freilich nicht wissen, ehe der Schritt nicht getan war. Am nächsten Morgen dachte ich darüber nach, ob ich den mir ›anvertrauten‹ kleinen Ohrring, der sich jetzt in meiner Jackentasche befand, der Eigentümerin zeigen sollte. Der Gang der Ereignisse würde von selbst die Antwort bringen. Ich hatte mich nun einmal dazu entschlossen, mich dem Fluß meiner Gefühle zu überlassen …
Als ich im Krankenhaus ankam, war ich angespannt, weil ich dieses Mal wußte, was ich erleben würde. Die Oberschwester begrüßte mich herzlich. Zafer Bey war nicht da, aber offenbar hatte er entsprechende Anweisungen gegeben. Wir redeten ein wenig zwischen Tür und Angel. Da ich Şebnem möglichst sofort sehen wollte und deswegen ungeduldig war, mußte ich meine ganze Kunst aufbieten, nicht unhöflich zu erscheinen, deshalb erklärte ich der
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