Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Schwester, ich wolle sie nicht länger aufhalten. Darauf meinte diese, sie werde mich bis zur Werkstatt begleiten, wobei sie bedeutsam lächelte. Ich würde die Gesuchte dort finden. Sie habe angefangen, ein neues Bild zu malen. Wir betraten ein großes Zimmer. Sie saß still vor einer noch ziemlich leeren Leinwand, wieder in ihre Finsternis zurückgezogen, abgeschottet gegen die Außenwelt. Plötzlich war mir, als suche sie jemanden in der tiefen Weiße der Leinwand. Auch andere Kranke waren in dem Raum. Doch keiner schien auf die anderen zu achten. Als wäre ich in einen Raum eingetreten, in dem jeder in seinem eigenen Zimmer hauste. Ich zeigte der Oberschwester den CD -Player in der mitgebrachten Plastiktüte und fragte, ob ich Musik spielen dürfe. Sie bejahte leicht unwillig, aber es dürfe nicht zu laut sein. Dann entfernte sie sich. Nun mußte ich allein fertig werden. Ich tat ein paar Schritte. Es schien, als habe Şebnem mein Kommen nicht bemerkt. Ich schaute auf das Bild, das sie malen wollte. Ich konnte nur ein paar farbige Pinselstriche sehen, die ich nicht zu deuten wußte. Sie hatte sich wohl auf einen neuen Weg gemacht. Ihre Bewegungen waren sehr langsam. Dieses Mal trug sie keinen Hut. Ihre langen, zu einem Knoten aufgesteckten Haare waren fast ganz weiß. Von dem Mädchen mit den kurzen, tiefschwarzen Haaren war sie jetzt weit entfernt und in eine ganz andere Zeit hinübergegangen. Sie sah viel älter aus als bei unserer ersten Begegnung. Doch ihr Gesicht war genauso erstarrt. Als wollte ich das Gefühl während unserer ersten Begegnung noch einmal erleben, versuchte ich zu sagen, was ich zu sagen hatte, wobei ich nicht wußte, wie meine Stimme klingen würde. Vor Aufregung fand ich keine anderen Worte. Zudem war ich mit einem anderen Anblick als dem erwarteten konfrontiert.
»Schau, ich bin wieder da …«
Ich konnte das Zittern in meiner Stimme nicht unterdrücken. Sie drehte sich langsam um und schaute. Als wäre ich ein Fremder, als sähe sie mich zum ersten Mal … Wer weiß, vielleicht war ich das für sie in dem Moment … Dann hatte ich den Eindruck, als lächle sie leicht. Es kann sein, daß ich dieses Lächeln sah, weil ich mir selbst etwas Mut machen wollte. Auch ich lächelte. In der Hoffnung, ich könnte sie meine Stimme und Existenz irgendwo hören lassen, auch wenn es für sie lange zurücklag … Doch unser Blickwechsel dauerte nicht lange. Nach einigen Sekunden kehrte sie ohne irgendeine Reaktion zu ihrem Bild zurück und malte weiter. Mir blieb deshalb nichts übrig, als weiterzusprechen. Dieses Mal versuchte ich eine Tür zu öffnen, indem ich auf das Bild blickte.
»Ich bemühe mich, das Brausen der Wellen zu hören.«
Warum hatte ich das gesagt? … War es, weil ich fühlte, sie würde sich auf diesem Bild wieder den Wellen überlassen, oder weil ich einen Weg zu ihr finden wollte? … Sie antwortete nicht. Aber es schien, als würden die Pinselstriche ein wenig schneller. Es wirkte, als sei sie ein wenig nervös. Hatte ich wohl einen ersten Kontakt aufgenommen? … Es war genau der richtige Zeitpunkt, einen weiteren Schritt zu tun.
»Auch ich mag die hohen Wellen. Doch ich finde sie zugleich sehr beängstigend. Ich stelle mir manchmal vor, an einem ganz verlassenen Ort mit Blick auf solche Wellen zu sein. Was würde ich da wohl tun? …«
Sie antwortete wieder nicht. Ich rechnete sowieso nicht damit, daß sie so schnell antworten würde. Noch einmal sagte ich mir, daß ich geduldig sein müsse. Und daß wir in sehr verschiedenen Zeiten waren … Und daß wir uns für eine Zeit, in der wir uns aufs neue würden berühren können, auseinandersetzen müßten mit den Zeiten, die wir an unterschiedlichen Orten verloren hatten … Und daß wir keine Wahl hatten, als unsere Zeiten mit uns zu versöhnen … Trotz unserer Getrenntheit. Wieder konnte ich nur versuchen zu reden, ohne zu wissen, wohin ich ging, wohin mich meine innere Stimme führen würde. Ich wollte auch glauben, daß wir auf diesem Weg miteinander sprechen würden, irgendwie miteinander sprechen, daß ich sie würde berühren können. Deswegen erzählte ich, ich erzählte, soweit ich es vermochte. Ohne daran zu denken, wo mich jene innere Stimme anhalten würde …
»Deswegen habe ich irgendwie nie gewagt, mir ein Boot zu kaufen. Erinnerst du dich an die Nacht, in der wir in Tarabya umschlungen auf der Bank saßen? … Ich habe es nicht vergessen. Wir haben lange auf die Boote in der Bucht geschaut. Ich habe es
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