Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
War das wirklich so? … Oder bildete ich mir das ein? … Ich wollte doch so unbedingt eine Reaktion hervorrufen … Vielleicht hatte ich mich inzwischen meiner Umgebung angepaßt und begann zu halluzinieren. Ähnlich wie bei unserer ersten Begegnung schauderte mich jetzt innerlich … In der Hoffnung, sie würde deutlicher reagieren, fuhr ich langsam die Lautstärke herunter, dann hielt ich die Musik an. Vielleicht wollte sie, daß ich weitermachte. Doch sie wollte nichts. Sie fuhr nur fort, reglos ihr Gemälde anzustarren. Da kam ich ihr ganz nahe. Ich flüsterte ihr ins Ohr, was ich in dem Moment fühlte. Es war die letzte Gelegenheit, mich ihr bemerkbar zu machen:
»Die Vorstellung ist beendet. Aber nur für heute. Nur für heute … Ganz bald komme ich wieder.«
Ich mußte keine weiteren Lieder abspielen. Und nichts weiter sagen … Ich packte langsam zusammen. Ohne ein einziges Wort … Sie schaute nicht von ihrem Bild auf. Ich näherte mich ihr leise von hinten und küsste ihre Haare. Ein Geruch von Seife stieg mir in die Nase. Wie schön war an ihr dieser Geruch, den ich in einer ungeliebten Kindheit gelassen hatte, an den ich mich deswegen nicht hatte erinnern wollen … Meine Lippen berührten nach Jahren wieder ihre Haut … Sie neigte ihren Kopf ein wenig. War das eine Reaktion, die man wichtig nehmen sollte? Vielleicht. Doch hier mußte ich innehalten. Wenn nicht ihretwegen, dann meinetwegen. Ich überzeugte mich davon, daß ich so weit gegangen war, wie ich gehen konnte. Ich schaute auf die Uhr. Es war nicht allzuviel Zeit verstrichen. Doch in diese kurze Zeit hatte eine andere Zeit hineingepaßt …
Ich verließ die Werkstatt, ging ins Stationszimmer und bedankte mich bei der Oberschwester. Auch sie bedankte sich. Sie bot mir einen Tee an. Ich sagte, ich könne dieses verführerische Angebot nicht annehmen, und schob meine Arbeit ›draußen‹ vor. Doch bei meinem nächsten Besuch würde ich der Einladung sicher gerne Folge leisten. Wir lächelten uns leicht an. Wir beide lächelten aus Höflichkeit und ein wenig gezwungen. Schließlich waren wir uns beide der höflichen Verstellung völlig bewußt. Sie fragte nicht, was wir in der Werkstatt gemacht hatten. Ich wollte es sowieso nicht erzählen. Ich konnte nur meine Entschlossenheit in diesem Kampf ausdrücken, indem ich erklärte, ich würde wiederkommen. Ich hatte getan, was nötig war, und entfernte mich. Ich konnte es nun nicht länger ertragen, dort zu bleiben …
Die Eindrücke wirken in uns nach
Mehr als der halbe Tag war vorbei. Ich entschloß mich, trotzdem in den Laden zu gehen. Ich hatte nicht alle unsere Lieder gespielt, sondern eingesehen, daß ich irgendwo innehalten mußte. Der Ohrring war noch in meiner Jackentasche, dort, wo er sich verstecken, warten mußte. Auch seine Zeit würde kommen. Als ich auf der Rückfahrt das Geschehene noch einmal Revue passieren ließ, ertappte ich mich plötzlich dabei, wie ich schmerzlich lächelte. Mit dem Gefühl, in einer anderen Welt gewesen zu sein, mit einer anderen Frau tagsüber ein anderes Zusammensein erlebt zu haben, kehrte ich an meinen Arbeitsplatz, in mein gewohntes Leben zurück. War das eine Art Seitensprung gewesen, um es einmal sehr banal auszudrücken? … Vielleicht übertrieb ich ja, vielleicht tat ich mir selbst unrecht. Hatte ich plötzlich ein schlechtes Gewissen? … Es war seltsam, daß ich dieses Gefühl hatte. Denn ich wollte ja die Reinheit hier bis ins letzte wahren. Auch wenn ich nicht wußte, was mich erwartete … Aus diesem Grund entschied ich mich, Çela von Şebnem zu erzählen. Mein Leben hatte unerwartet Farbe bekommen, und die Begeisterung darüber wollte ich möglichst auskosten. Ich wollte auch wagen, meine Erlebnisse bis zum Ende zu erleben, mich gleichzeitig aber immer an die Tatsache erinnern, daß ich im Wettlauf mit der Zeit war … Es war nicht leicht gewesen, diese Einstellung zu erreichen, schließlich hatte ich viele Verluste erleiden müssen, um den Weg nun mit diesem Gefühl gehen zu können. Etwas Böses hatte dazu geführt, daß sich in der Finsternis eine Tür geöffnet hatte. Ich mußte erkennen, was dies wert war, mußte den Wert eines jeden Schrittes erkennen, den ich tat …
Da merkte ich, daß ich hungrig war. Nachdem ich mein Auto auf den Parkplatz gefahren hatte, führten mich meine Füße unter dem Eindruck meiner Erinnerungen von selbst zum Rumeli Köftecisi. Der Kellner wußte, was ich essen wollte: Bohnensalat nur aus Bohnen und
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