Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
…«
Sie reagierte nicht und malte weiter, als wäre ich gar nicht da. Ich sah jetzt nicht nur Felsen, sondern auch einen orangefarbenen Himmel. Hatten wir Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang, die Zeit, wo sich eine neue Nacht, die Finsternis, nahte? … Von meinem Blickwinkel aus konnte ich das nicht erkennen. Doch darauf kam es nicht an. Wichtig war nur, daß sie in ihrer Welt von einer neuen Begeisterung ergriffen war. Ich konnte diese Begeisterung trotz der Mauer sehen, die sie um sich gezogen hatte, trotz ihrer Zurückgezogenheit. Sie hatte sich offensichtlich mit ihren Bildern eine ganz andere Welt erbaut. Vielleicht war diese Welt ihr Zufluchtsort. Ihr Zufluchtsort … Trotz aller Stürme, die sie malte … In dem Moment war ich ebenfalls aufgeregt. Doch meine Begeisterung war viel naiver. Ich lächelte. In meinem Lächeln spürte zumindest ich heimlich ein wenig Verschmitztheit … Ich nahm den CD -Player aus meiner Tüte. Eine Steckdose befand sich in der Nähe. Ich schaute sie an. Sie hatte zu malen aufgehört. Es war, als bliebe ihr Blick am Bild hängen. Ich wollte allzu gerne glauben, sie täte das, um mich nicht anzusehen … Ich berührte sie leicht an der Schulter. Sie drehte sich um. Dieses Mal schien sie an mir haftenzubleiben. Ihre Blicke wirkten wieder entfernt, sehr weit entfernt. Weit weg und indifferent … So leblos, daß es einen erschrecken konnte … In dieser Situation fühlte ich mich unbehaglich. Doch davon mußte ich mich schnell befreien. Meine kindliche Begeisterung kam mir wieder einmal zu Hilfe. Ich zeigte ihr die CD , die ich in der Hand hielt. Es war eine CD von Georges Moustaki. Darauf war ein Foto des Musikers, das sehr gut zum Geschmack der damaligen Zeit paßte. Ich fühlte mich zu einer Erläuterung gedrängt. Ich wollte uns beide auf das kleine Konzert vorbereiten.
»Du hast gedacht, ich wäre mit leeren Händen gekommen, nicht wahr? Nun schau mal her. Ich weiß nicht, ob du dich noch erinnerst. Diese Lieder hast du mich lieben gelehrt. Während ich sie gehört habe, habe ich häufig an dich gedacht, dich mir in Erinnerung gerufen, wie ich dich zuletzt gesehen hatte. Ich habe nicht gewußt, wie es dir ergangen ist, doch ich habe mir immer Sorgen um dich gemacht und mich gefragt, wie es dir ergangen sein mag. Wie sehr habe ich mich in manchen Nächten nach dir gesehnt …«
Nach diesen Worten ließ ich die CD laufen. Das erste Lied war eins der heißesten: ›Le Métèque‹ (›Ich bin ein Fremder‹). Dieses Chanson kannten auch diejenigen, die keine Fans von Moustaki waren. Beim ersten Anhören hatte ich nicht alle Worte verstanden, doch schon das, was ich verstanden hatte, hatte mir ausgereicht. Ich erinnere mich, daß ich sehr gerührt, daß mir zum Weinen zumute gewesen war. Hatte mich die Hoffnung fasziniert, die durch die Melancholie noch tiefer, noch bedeutsamer wurde? War es der weise Blick auf die Trennung? … Die Trennung als solche? … Als ich das Stück nun hörte, war ich wieder ergriffen. Doch diese Ergriffenheit war eine andere, sie erweckte Bilder, die in der Tiefe lagen. Ich schaute Şebnem an und suchte in ihrem Gesicht nach den Spuren dieser Vergangenheit. Sie hatte ihre Blicke noch immer nicht von dem Bild vor sich abgewandt. Da schaute ich mich ein wenig verschämt um. Ich wollte niemanden belästigen. Eine Frau rief ihren Nachbarinnen zu: »Er hat einen Sänger mitgebracht!« Eine näherte sich mir und schaute mich mit verwunderten Augen an, um zu verstehen, was ich machte. Sie war einfältig, unschuldig. Ich strich ihr über den Rücken, lächelnd, um sie spüren zu lassen, daß ich ihre Unschuld sehr mochte … Sie reagierte nicht und entfernte sich von mir. Die Musik spielte weiter. Ich schaute noch einmal zu Şebnem hin. Sie schien immer noch in weiter Ferne und unerreichbar. Ich schwieg. Die Chansons sprachen sowieso. Ich stand von dem Hocker auf, den ich neben sie gerückt hatte, und schaute aus dem Fenster. Ich dachte nach über mich, über uns, unser Leben und unsere Versäumnisse. Wie hoch der Preis war für manche Verbannungen … Wie manche Menschen manche Einsamkeiten erlebten … Jetzt lief das Chanson ›Ma Solitude‹. Moustaki sang: »In meiner Einsamkeit bin ich nicht allein.« Ich schaute weiterhin hinaus. Plötzlich hatte ich das Gefühl, ich müsse mich zu ihr umdrehen. Und als ich mich umdrehte, sah ich in ihrem Gesicht eine kleine, unbestimmte Veränderung. Ihre Augen waren ein wenig feucht, und sie schien schwerer zu atmen.
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