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Wodka und Brot (German Edition)

Wodka und Brot (German Edition)

Titel: Wodka und Brot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mira Magén
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kontrollierte, ob keine Härchen vom Rasieren zurückgeblieben waren, sagte er: »Und glaub ja nicht, dass es sich um einen Idioten handelt, dieser Obdachlose steckt mich und etliche meiner angesehenen Kollegen in die Tasche, doch er hat es nicht nötig, das zu demonstrieren.«
    »Alle Achtung, dass du dich um solche Ausgestoßenen kümmerst. Dein neuer Freund ist vermutlich gaga, ein besonderes Exemplar.«
    Seine Augen im Spiegel wurden hart, er löste wild den Krawattenknoten, warf den Kamm auf die Ablage und explodierte.
    »Sag mal, hast du überhaupt gehört, was ich gerade gesagt habe? Dieser Gaga steckt dich und mich in die Westentasche. Hast du jemals einen Mann gesehen, dem es völlig egal ist, ob er im Bewusstsein der anderen existiert? Der Gefühl und Bewusstsein völlig autark beherrscht und von keinen Äußerlichkeiten abhängig ist. Nimm Gott, hörst du, sogar Gott ist nicht fähig, ohne andere zu existieren, ohne Menschen, die an ihn denken, die an ihn glauben und ihn bewundern. Ich sage dir, dieser Mann ist eine erhabene menschliche Mutation …«
    »Gut, beruhige dich. Was ist los mit dir? Du hältst mir einen Vortrag, als wären wir bei Gericht, eine erhabene menschliche Mutation, das überzeugt mich ganz und gar nicht …« Ich berührte ihn von hinten, um ihn zu beruhigen, und da verlor ich ihn, der Mann, der mich da aus dem Spiegel anschaute, war ein Fremder. Er schüttelte mich ab und sah aus, als sei er auf dem Gipfel einer Erkenntnis, im besten Fall, oder als erleide er einen epileptischen Anfall, im schlechtesten.
    »Ich koche Kaffee.« Ich ließ ihn im Badezimmer allein, damit er wieder zur Besinnung kam. Ein paar Minuten später folgte er mir in die Küche, trank schweigend seinen Kaffee und war noch immer erregt.
    »Du wirst nie im Leben obdachlos sein, und weißt du auch, warum? Du wirst es nicht aushalten ohne deinen Kaffee am Morgen.«
    »Das werden wir sehen.« Er lächelte bitter, räumte die Tassen in die Spüle, griff nach der beeindruckenden Tasche, die ich ihm zum Abschluss seines Praktikums gekauft hatte,und sagte: »Los, gehen wir Geld verdienen.« Wir verließen die Wohnung, und der Junge rannte vor uns die Treppe hinunter, und er war noch immer aufgebracht wegen des Vorfalls im Badezimmer. »Weißt du was? So, wie es Herzanfälle gibt, gibt es auch Bewusstseinsanfälle, plötzlich wird das Gehirn durch einen Gedanken blockiert, und das war’s dann, ein Pfropfen, es kommt kein Blut mehr, der ihn auflöst, schmelzen lässt und weiterschwemmt, er bleibt stecken und verstopft das Gehirn.«
    »Was für ein Gedanke?«
    »Ich schwöre dir, ich weiß es nicht mehr, und dass ich mich nicht erinnere, erschlägt mich mehr als alles andere.«
    Er drehte das Lenkrad im Lärm des Straßenverkehrs und sagte: »Ich weiß nicht mehr, was das war, ich werde verrückt.« Unser Leben ging weiter, das Thema kam nicht mehr auf die Tagesordnung, die Sache wiederholte sich nicht, wurde nicht mehr erwähnt, und er fuhr fort, sich mit seinem seltsamen Mandanten zu treffen.
    Inzwischen hatte sich das junge Mädchen, das überfallen worden war, erholt und sagte aus, der Angreifer sei ein junger, muskulöser Mann gewesen, kein alter Obdachloser von fünfzig. Er war frei, seine Akte wurde geschlossen, doch Gideon fuhr fort, sich mit ihm zu treffen, mit seinem makellos weißen Hemd lehnte er sich an das Gitter des Schuhgeschäfts hinter dem Karton, und der Mann in Lumpen saß ihm gegenüber und breitete seine philosophischen Theorien vor ihm aus. Eines Tages, als Gideon sich dem Karton näherte, erkannte ihn der Mann an seinen Schuhen, hob den Kopf von dem Buch, das er gerade las, und sagte: »Das war’s, wir haben einander nichts mehr zu geben. Beziehungen werden zu Fesseln, wenn man sie nicht rechtzeitig abbricht.« Das Buch, das er las, handelte vomSeelenleben der Pflanzen. Gideon drehte sich um und ging, der Mann trug seinen Karton woandershin, und sie hörten auf, sich zu treffen.
    Wer weiß, welche Gedanken der Obdachlose in Gideons Gehirn gesät hat, Gedanken, die jetzt aufgehen. Wie soll ich der Polizei vom Gehirnanfall und dem verstopften Muskel des Bewusstseins und dem Blutgerinnsel der Gedanken erzählen, das sich nicht auflöst und das Gehirn verstopft. Sie werden mir ein Glas Wasser anbieten und sagen, das ist nicht so schlimm, ruhen Sie sich ein bisschen aus, beruhigen Sie sich, und sie werden in das Verhörprotokoll schreiben, die Ehefrau ist völlig abgedreht, und in Klammern werden sie

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