Wodka und Brot (German Edition)
dem Essen im Flur auf und sagte zu dem ersten Mädchen, das ihm entgegenkam: »Tiere sterben schneller als wir.«
»Das stimmt nicht. Meine Oma ist ganz schnell gestorben.« Das Mädchen hatte keine Sekunde gewartet, und ihre Mutter wartete auch nicht. »Was ist mit euch los, Kinder, redet doch über fröhlichere Sachen«, sagte sie. »Er hat angefangen«, antwortete das Mädchen, zog die Schultern hoch und stürzte sich in den Kindergartentrubel.
»So eine blöde Gans«, sagte Nadav und befestigte den Riemen seiner Tasche am Haken, dann lief er ihr hinterher.
Vier Stunden blieben mir, bis die Polizei mir Gideon zurückbringen würde, entweder freiwillig oder in Fesseln. Die Polizisten würden allerdings erst dann in Erscheinung treten, wenn eine Vermisstenanzeige aufgegeben war. Bevor sie anfingen, in unserem Leben herumzuwühlen, würden sie die von der Statistik empfohlenen Fakten sammeln. Sie werden fragen, ist er zum ersten Mal verschwunden? Und ich werde lügen und sagen, ja, zum ersten Mal. Ich werde ihnen nicht sagen, dass ich ihn schon einmal gesucht und nicht gefunden hatte, vor ungefähr zwei Jahren. Sein Verschwinden hatte höchstens acht Minuten gedauert, er war zwar mit mir zusammen gewesen, aber er ging verloren. Damals vertrat er einen Mann, der kein Zuhause hatteund auf einem Karton in der Jaffastraße wohnte und des versuchten Mordes verdächtigt wurde. Der Mann bettelte nicht, er entblößte keine kranken Gliedmaßen, er wollte von niemandem etwas. Er saß auf seinem Stück Karton, aß sein Brötchen mit Gurke, betrachtete die Beine der Vorübergehenden und schien zufrieden zu sein. Sein Bedürfnis erledigte er in den öffentlichen Toiletten, er duschte unter den Sprinkleranlagen, mit denen der Rasen im Stadtpark gegossen wurde. Seine Unterhosen wusch er im Gießwasser und trocknete sie auf dem Geländer des Parks. Er führte sein Leben mit dem Wasser der Rasensprenger, bis man eines Tages ein junges Mädchen auf der Damentoilette im Park fand, mit Stichwunden am Hals. Der Verdacht fiel auf ihn. Es kam zu einer Gegenüberstellung, und das junge Mädchen sagte, ich bin nicht sicher, ich war ohnmächtig vor Angst, kann sein, dass er es war, kann sein, dass er es nicht war, ich weiß es nicht. Er leugnete, aber er hatte kein Alibi, er spielte weder Tennis noch ging er ins Kino, er wurde auch nirgendwo eingeladen, und zu seinem Pech besaß er ein gezacktes Messer, mit dem er Gurken schälte. Er erzählte den Untersuchungsbeamten, dass er auf der Straße wohnte und zum Pinkeln die öffentlichen Toiletten benutzte, aber immer nur die Seite der Männer, und sie glaubten ihm nicht. Gideon erbot sich, ihn zu verteidigen, obwohl er kein öffentlicher Pflichtverteidiger war. Er war bezaubert von dem Mann, der sein Haus vermietet hatte und auf der Straße lebte, für das Geld, das ihm die Miete einbrachte, kaufte er Schwarzbrot und Bücher, die er auf den Parkbänken liegen ließ, wenn er sie gelesen hatte. Er beharrte darauf, Gideon für seine Arbeit zu bezahlen, ihre Treffen fanden auf der Straße statt, manchmal stand er in seinen schäbigen Klamotten auf dem Karton, manchmalsetzte sich Gideon in seinen gebügelten Hosen und seinem weißen Hemd zu ihm. Er wusste, dass der Mann unschuldig war, dass es keine Beweise dafür gab, dass er etwas mit dem Verbrechen zu tun hatte, dass er mit Leichtigkeit seine Unschuld beweisen würde. Die berufliche Herausforderung bei diesem Fall war eher banal, aber die menschliche Herausforderung, die dieser Mandant bedeutete, begeisterte ihn. Gespräche über Toiletten und das Mädchen wechselten mit Gesprächen über Freiheit, Ordnung und System. Der Mann, der das genaue Gegenteil von ihm war, faszinierte Gideon, kein Talar, keine Ehre, keine Schande, keine Hypothek, keine Familie, keine Freunde, keine Schulden und keine Beziehungen. Keine Einkommensteuer und keine Krankenkassenbeiträge, kein Briefkasten, keine Adresse, nur einen Personalausweis wegen der Polizei und wegen der noch zu erwartenden Beerdigung und der damit zusammenhängenden Löschung aus der Datei im Innenministerium. »Er ist erstaunlich, dieser Mann«, sagte Gideon damals, »schau es dir an, er ist aus dem Spiel ausgestiegen und hat sich dazu entschieden, das Leben von der Tribüne aus zu betrachten, im ganzen Dreck der Straße ist er sauberer als wir alle, und im Gegensatz zu den meisten ist er auch zufrieden.« Er stand vor dem Spiegel, band seine Krawatte, und während er den Kragen zurechtzog und
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