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Wodka und Brot (German Edition)

Wodka und Brot (German Edition)

Titel: Wodka und Brot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mira Magén
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beimRennen hüpfte der Proviantbeutel mit den Pflaumen, die er nicht gegessen hatte, auf seiner Brust.
    Gideon saß auf der Haustürtreppe, er hatte gesagt, er würde uns nicht überraschen, aber er überraschte uns doch. Es lag etwas Mitleiderregendes in der Art, wie er das Kinn auf die Knie drückte, an dem trockenen Zweig, mit dem er in den Sand malte, an dem leeren Rucksack, der ihm über den Rücken hing. Er hörte die Pflaumen an Nadavs Brust schlagen, er hörte das Klappern der kleinen Schuhe und richtete sich auf. Als er den Jungen sah, lächelte er ihm entgegen und breitete die Arme aus, um ihn aufzufangen. Er sah auch mich und winkte mir zu. Sein Unterarm war unerwartet dünn, er hätte Muskeln bekommen müssen von der Arbeit. Seit er weggegangen war, band er Schilfrohr zusammen, befestigte Haken, warf Gewichte mit Ködern aus, zog Netze ein und erledigte alle möglichen anderen Arbeiten, für die kräftige Arme nötig waren. Er hob Nadav in die Höhe und rieb sein Gesicht am Hals des Jungen, dann machte er eine Hand frei, zog mich an sich und drückte mir einen Kuss auf die Haare.
    »Du hast gesagt, du würdest nicht überraschend auftauchen.« Ich lächelte und achtete darauf, nicht den geringsten Vorwurf in meine Stimme zu legen.
    »Wirklich? Das habe ich vergessen.«
    »Du wolltest keinen Schlüssel.«
    »Ja, je weniger Schlüssel, umso besser.«
    Der Alte stand in seinem offenen Fenster wie ein Zugschaffner auf seinem Wachposten. Er beobachtete uns misstrauisch, sein Körper war angespannt und nach vorn geneigt, er hielt sich am Fensterbrett fest, um vor lauter Neugier nicht hinauszufallen.
    »Wer ist der Herr?«, fragte er Gideon mit barscher Stimme.Nadav verbarg sein Gesicht am Hals seines Vaters und stieß ihn mit den Schuhen an, um ihn zur Eile anzutreiben.
    »Ich bin Gideon, der Mann Ihrer Mieterin und Vater des Jungen«, antwortete Gideon. Ich hatte die Tür aufgeschlossen, wir waren schon mit einem Fuß im Haus.
    »Interessant. Meine Mieterin bekommt jeden Tag neue Verwandte. Was ist, Junge, warum hast du heute nicht deine neuen Schuhe angezogen?«
    Nadav schwieg, wir gingen ins Haus und machten die Tür zu.
    Wir hatten uns lange nicht gesehen, aber es war, als hätten wir uns erst gestern getrennt, es gab keine Dramen und keine persönlichen Bekenntnisse und keine tiefgründigen Diskussionen über den Prozess, oder was immer es war, was Gideon durchmachte. Wir unterhielten uns über einfache, alltägliche Dinge, wie früher, wenn Gideon von seiner Kanzlei zurückgekommen war und ich von der Bank, doch statt um Verbrecher ging es jetzt um Fische und die Rettung, und statt um Gewinn- und Verlustrechnungen um den Laden. Ich fragte: Nescafé oder aufgebrühten? Welche Fische habt ihr in eurer Zucht? Magst du Toast? Er fragte: Wie geht der Laden? Geht dir dieser Hausbesitzer nicht auf die Nerven? Nadav redete mehr als wir beide, und wir unterbrachen ihn nicht. Er zeigte sein Schuhversteck, erzählte von den echten Pistolen der Polizisten, von den neuen Verwandten, die wir bei der Polizei gefunden hatten, und er verriet auch die Parole. »Du musst nur ›kleine russische Hure‹ sagen und sie kommen. Madonna hat mir das beigebracht. Kennst du sie?«
    Gideon trank Kaffee, aß und sprach wie früher, wie immer, aber sein Bariton war kratzig, als wären seine Stimmbänder von der stärkeren Sonne im Süden angesengt odervom Salz verätzt worden. Sein Arm war dünner geworden, der Abstand, der sich zwischen dem Uhrenarmband und dem Handgelenk auftat, war neu. Seine Augen suchten meine, wenn ich schwieg, und wichen mir aus, wenn ich ihn anschaute. Ein Mann, der einen guten Platz vorn im Autobus gehabt hatte und plötzlich beschloss auszusteigen und der seither keinen richtigen Platz fand. Er ging mit Nadav hinaus auf den Hof und erzählte ihm von den Fischen, und in seiner Stimme lag etwas Gezwungenes. Ich schaute ihnen vom Fenster aus zu, er klopfte Nadav auf die Schulter, los, wir gehen in den Wald, und der Junge fing vor Freude an zu hüpfen wie eine Laubheuschrecke, hielt inne, um sich zu versichern, dass sein Vater ihm folgte, und hüpfte weiter. Ich hätte schwören können, dass sich sein Herz bei jedem Fisch, den er dem Jungen beschrieb, zusammenzog, bei jeder Umarmung, bei jedem Streicheln und jedem eingebildeten Anzeichen männlicher Verbrüderung. Wo also hatte der Fehler angefangen? Wäre er weiter in den Hallen der Gerechtigkeit ein und aus gegangen, hätte er uns eine geachtete Existenz

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