Wodka und Brot (German Edition)
Träger sorgfältig nach oben, damit sie nicht mehr abrutschen konnten. »Wie viel bekomme ich in der Stunde, wenn ich hier arbeite?«
»Zwanzig, wenn deine Diebstähle bezahlt sind.«
»Was hast du, zwanzig mache ich in der Minute.« Sie ließ einen Träger sinken und bat um einen Kaugummi, dann fiel ihr ein, dass sie noch die gestrigen Zigaretten schuldig war. »Also schreib alles auf eine Rechnung, mit dem Kaugummi, und wenn ich Geld habe, bezahle ich dich …« Mager, blass, mit kräftigen Armen, die Schläge empfangen und verteilen konnten. Hatte sie ein Zuhause? Oder nicht? Wo lagen ihre T-Shirts? Ihre Schuhe? Ihre Zahnbüste? Fast hätte ich die Hand ausgestreckt und ihre entblößte Schulter umarmt, hätte den schmalen Träger berührt, der es auf sich genommen hatte, der Welt zu trotzen. Das hätte man sich denken können, niemand kümmerte sich um die Menschen in Ruanda und im Sudan, sollte sich die Welt dann für eine magere Madonna interessieren? Für eine junge Frau von etwas über vierzig Kilo? Für die Welt waren sie und der Vogel in der Schachtel ein und dasselbe.
Eine Minute verging, dann zerbrach sie so plötzlich wie ein Tonkrug, sie wühlte in der Tasche ihres Jacketts, holte einen Personalausweis hervor. »Hier, nimm, melde mich an, was immer du willst.« Sie ließ den Ausweis auf die Theke fallen. Das Gesicht auf dem Ausweisfoto war rund und kindlich, die Augen gaben dem Leben noch Kredit, als müsse nicht zwangsläufig alles schiefgehen. Sie war sechzehn, wohnte in der Jisa-Bracha-Straße und hieß RivkaSchajnbach. In den drei Jahren, die seither vergangen waren, hatte Madonna Solschenizyn die Herrschaft über Rivka Schajnbach übernommen und sie ausgelöscht, und auch die Straße, deren Name Segen bringen sollte, brachte ihr nichts mehr. Sie war einen Kilometer von diesem Laden entfernt geboren worden und hatte sich erneut auf dem Roten Platz auf die Welt gebracht, und von allen Berufen, die jener Platz zu bieten hatte, hatte sie sich die kleine russische Hure ausgesucht.
An diesem Tag schloss Amjad den Laden und nahm den kleinen Vogel mit, ich die Daten, die ich aus ihrem Ausweis abgeschrieben hatte, und sie ihr zerknittertes Jackett. Wir standen vor dem Laden, Amjad drückte den atmenden Karton an die Brust und ging nach Hause, heute musste er sich nicht um den Alten kümmern, denn dieser hatte angekündigt, dass am 19. Elul niemand sein Haus betreten dürfe, auch Gott nicht. Ein letzter Lichtstrahl glitt weich über Madonna, als ob sie noch immer Rivka Schajnbach wäre, mit schwarzen Strümpfen, bis zum Hals zugeknöpft und mit Zöpfen. Nervös und zornig stand sie in dem schwachen Licht und überlegte ihre nächsten Schritte, und bevor sie sich auf den Weg zum Platz im Stadtzentrum machte, an dem sich die Ausgestoßenen sammelten, schärfte ich ihr noch einmal die vier neuen Gebote ein: Du sollst im Laden nicht rauchen. Du sollst im Laden keinen Alkohol trinken. Du sollst nicht betrunken zur Arbeit kommen. Du sollst nicht stehlen.
»Man könnte glauben, dein Laden ist eine Synagoge. Nun, und wenn ich etwas trinke, was machst du dann mit mir? Entlässt du mich? Egal, ich komme mit oder ohne Arbeit klar.« Sie schob eine Hand in ihre wilde Haartolle, die anderehob sie in die Luft, um anzuzeigen, dass sie, wenn es nötig wäre, die Weltkugel anheben und auf einem Finger balancieren könne.
»Hast du einen Platz, wo du zu Abend essen kannst?« Das sanfte Licht, das ihr Kinn rund und ihre Augen größer machte, erlaubte mir nicht, sie allein vor der Dunkelheit stehen zu lassen.
»Zu Abend essen? Klar doch, ich habe Vorspeise, Hauptgericht, Nachspeise …«, sagte sie verächtlich und wandte sich zur Straße, und ich schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Von wo waren sie bloß alle über mich gekommen, der Alte, Madonna, Maja-Mirjam, der freigelassene Gefangene, der die Wohnung gemietet hatte, und, ja, auch jener Amos.
Menschen verließen Büros mit Aktentaschen und Umhängetaschen und gingen nach Hause, in Restaurants, zu ihren Geliebten. Ein Lebensweg, sauber und hygienisch, könnte man sagen, auch wir hatten uns einmal eingereiht, mit weißen Kragen und guten Schuhen. Jetzt trug ich flache Sneakers, und meine Haare waren geschoren, sammelten sich auf meinem Kopf wie verlorene Schafe, dürftig und starrköpfig. Geld geht zu Geld und Last zu Last. Na und, hätte ich jetzt zurückkehren wollen? Nein, auch wenn man das Fenster vergrößert und den Ausschnitt des Himmels verdoppelt
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