Wodka und Brot (German Edition)
laufen?«
»Flüssigkeit, der Mann ist völlig dehydriert hier eingeliefert worden«, sagte sie und sah ein Licht neben der Tür eines Zimmers flackern, ging dorthin und ließ auf dem Weg ein paar Worte fallen: »Er wird jedenfalls noch immer untersucht, also …« Sie wurde von dem dunklen Zimmer verschluckt. Im Schwesternzimmer beugte sich eine andere Schwester über Krankenblätter und machte Notizen.
»Entschuldigung, kann ich Sie etwas fragen?«
Sie hob den Blick nicht von den Papieren. »Ja, natürlich.«
»Welche Untersuchungen werden mit Gideon aus Zimmer acht gemacht, das heißt, was vermuten Sie, was er hat?«
»Tut mir leid, aber medizinische Informationen geben nur die Ärzte, sie beantworten nachmittags die Fragen von Familienangehörigen.« Sie hob den Blick von den Unterlagen und schaute mich teilnahmsvoll an. »Aber hören Sie, er ist in guten Händen, übrigens, wenn Sie bis zum Morgen bleiben wollen, es gibt neben seinem Bett einen Sessel, da können Sie ein bisschen schlafen.«
Fragen von Familienangehörigen, was soll das heißen, höchstens eine Frage, und zwei, wenn es mehrere sind, die Frage, was im Gehirn ihrer Lieben schiefgelaufen ist und ob es für immer sein wird. Das kann man vor dem nächsten Nachmittag nicht beantworten?
»Können Sie mir seine Patientenkarte zeigen?«
»Nein, tut mir leid.« Sie legte den Ellenbogen auf den Stapel Papiere, als könnte ich sie ihr gleich wegreißen.
»Die Krankheit gehört ihm, nicht Ihnen, wenn er entlassen wird, wird er Ihnen nichts davon dalassen, er wird sie mitnehmen und mit mir teilen, warum kann ich seine Karte dann nicht jetzt schon einsehen?«
»Hören Sie, so sind die Vorschriften, ich habe sie nicht gemacht.«
»Vorschriften, Vorschriften, lassen Sie den Menschen ein bisschen Spaß, wenn er schon …«
»Was soll ich machen.« Sie lächelte hilflos und schützte noch immer die Patientenkarten mit ihrem Körper.
Ich wusste nicht, ob es gut war, bis zum Morgen zu warten, neben seinem Bett gab es ein riesiges Fenster, die Sonne würde mit ihren Heerscharen an Strahlen hereindringen und jede Pore und jede Bartstoppel beleuchten,bedenkenlos die Haut und jedes Äderchen bloßlegen, würde einen Projektor auf seine Nieren und seine Eingeweide richten und ihn so durchsichtig machen wie seinen Infusionsschlauch. Er wird an seinem Laken ziehen, er wird sich das Gesicht bedecken und mich bitten, ihn in Ruhe zu lassen, er wird sagen, ihm fehlten nur tausend Stunden Schlaf, er wird versprechen, dass er, wenn er ausgeschlafen habe, wie neu aufstehen und wieder so sein würde, wie er vor dem Tablettenschlucken gewesen war.
»Kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«
Ich wusste nicht, wodurch ich das Mitleid der Schwester geweckt hatte, die mit ihrem Ellenbogen die Patientenkarten schützte, sie hätte mir nichts angeboten, hätte sie nicht gewusst, was mich auf dieser Karte erwartete, die sie mir vorenthielt. In ihren Augen lag tiefer Ernst, eine junge Frau, die schon viel Schlimmes erlebt hatte, Schlimmes, das bei ihr Zwischenstation machte, um dann den Platz für neue Sorgen zu räumen. Ich hätte gern gewusst, ob sie vor dem Spiegel noch die Lippen vorschob, ob sie sich durch die Haare fuhr und ihren Hals prüfte, ob ihr die Schönheit des Fleisches noch etwas bedeutete, nachdem sie hier Tag für Tag seine Vergänglichkeit sah. Sie vertraute meinem Anstand, ließ die Papiere im Stich und kam mit einer dampfenden Tasse zurück, gab sie mir, und ich trank, und nie war mir ein vergleichbarer Tee über die Lippen gekommen. Kochendes Wasser und ein Teebeutel, Trost und Wohltat aus einer Tasse zur späten Stunde. Wer kann wissen, wie viele schmerzende Lippen die Welt verflucht haben oder wie viele den Segensspruch gesagt haben, gesegnet seist du, Gott, durch dessen Wort alles entstand, wenn sie aus dieser orangefarbenen Plastiktasse tranken, wie viele haben sich gequält und darauf gewartet, dass ihnen jemand einenTrinkhalm gibt, damit sie trinken können, wie oft hat sich die Tasse im Geschirrspüler des Krankenhauses verbrüht, mit Wasser, das heißer und stärker ist als das Fleisch und das Blut, die sich an sie drücken.
Ich trank sie bis auf den letzten Tropfen leer und erkannte erleichtert, dass ich im Moment von niemandem hier gebraucht wurde.
»Ich werde nicht bis zum Morgen warten«, sagte ich zur Schwester.
»Wie Sie wollen.« Sie war sensibel genug, nicht nach dem Grund zu fragen.
Der Kuss, den ich auf Gideons Stirn drückte,
Weitere Kostenlose Bücher