Wodka und Brot (German Edition)
Telefon aus, zog die Decke über meine kurz geschnittenen Haare, und eine Sekunde später wusste ich nichts mehr. Der Wecker klingeltezum Zeitpunkt, an dem man in der Neurologie die Fragen der Familie beantwortet.
Ich rief an. Der Arzt war so kurz angebunden, dass ich ihn festnageln musste, um ihn zurückzuhalten. Was vermuten Sie, was er hat? Welche Untersuchungen …
»Verstehen Sie, ich sage Ihnen noch einmal, wir wissen es noch nicht, Ihr Mann hat Tabletten geschluckt und kam dehydriert hier an. Das sind die Fakten, ja? Wir wissen nicht, ob es einen psychiatrischen Hintergrund gibt, ob er vorher dehydriert war und dann die Tabletten schluckte, Sie müssen geduldig sein.«
»Es gibt keinen psychiatrischen Hintergrund, Doktor, er war Offizier beim Militär, er ist ein erfolgreicher Rechtsanwalt, er …«
»Meine Dame, es ist schade um unsere Zeit, ich sage Ihnen noch einmal, wir werden mehr wissen, sobald wir alle Untersuchungsergebnisse haben.«
»Seine Beurteilung bei der Armee war absolute Spitze, sowohl physisch als auch psychisch, Doktor, woher soll das Psychiatrische kommen …«
»Zum dritten Mal, meine Dame, es gibt noch keine Diagnose. Ich verstehe Sie ja, aber Sie müssen auch mich verstehen. Es tut mir leid, hier warten noch andere …«
Ich verstand ihn. Er hatte keine Zeit. Und wie sollte er auch? Sieben Jahre hatte er in die Medizin investiert, weitere sechs Jahre als Assistent, so viel Zeit, um zu lernen, was die Funktion des Gehirns störte und was es vernichtet. Dieser Doktor wird nur dann, wenn er krank wird, einen Moment Zeit finden, einen Sonnenuntergang zu betrachten oder mit seinen Kindern Seifenblasen zu machen. Möge er gesund sein, aber was geht mich dieser Doktor an, mir geht es um Gideon, und was Gideon betrifft, wenn dieSeele das ist, was ich glaube, dann sollen sie ihn in Ruhe lassen, er ist gesund. Ich kenne ihn. Und wenn ich mich irre, und die Seele besteht aus Blut und Hormonen und elektrischen Impulsen und all dem, sollen sie ihm Chemie geben, die repariert, was kaputtgegangen ist, eine kleine Tablette zweimal am Tag, es kann nicht sein, dass sie nicht etwas Passendes vorrätig haben.
Aber vielleicht ist es trotzdem nicht die Seele, vielleicht haben ihn die vielen Tage, die er bei den Fischen verbracht hat, gelehrt, dass das Leben keinen Sinn hat und ohne Sinn wertlos ist, und deshalb hat er Tabletten geschluckt, um die Zeit abzukürzen. Der Sinn des Lebens, hat irgendjemand eine Ahnung, was das ist? Am liebsten hätte ich ein Fenster aufgemacht und laut geschrien, hallo, kennt jemand den Sinn des Lebens? Aber wenn ich es aufmache, wird nur der Alte zu seinem Fenster kommen und sagen, der Sinn des Lebens ist die Sehnsucht nach den Toten. Als ich an den Alten dachte, fiel mir Amos ein.
Ich schickte ihm eine SMS: »Womit kann ich Ihnen helfen?« Ich schaute aus dem Fenster und sah, dass der Tag seinen Höhepunkt schon erreicht hatte, die Sonne hatte unsere Hauptstraße überquert und bewegte sich jetzt zur anderen Seite, im Kindergarten des Jungen aßen sie schon das Mittagsbrötchen und tranken Kakao aus der Tüte.
Eine Minute verging, da rief Amos an und bat mich, wenn es mir nichts ausmache, kurz auf dem Friedhof vorbeizuschauen und herauszufinden, ob Chagi Besuch bekommen hatte, ob jemand dort einen Gegenstand oder ein Zeichen hinterlassen hatte.
Ich hätte alle Kraft zusammennehmen und mich der Stimme verweigern sollen, die zu jenen gehörte, denen man fast automatisch gehorcht. Ich wollte sagen, hören Sie, ichhabe einen Mann im Krankenhaus, auf der Neurologie, der fast in derselben Lage gewesen wäre wie Ihr Sohn, ich habe ein Lebensmittelgeschäft und keine Ahnung, ob man dort nicht Wodka klaut, ich habe einen Jungen, dem seine Eltern fehlen, ich habe genug am Hals. Ich wollte ihn fragen, was es ihm bringe, wenn ich nach Besuchen von Verwandten am Grab spionierte. Ich sagte nichts, ich fragte nichts, ich tat, was er von mir wollte. Manchmal zerreißt dir das Weinen eines Säuglings das Herz, und manchmal das »Tun Sie mir einen Gefallen, können Sie nicht …«
Ich rief ihn vom Friedhof aus an. »Jemand hat eine Vase mit fünfzehn Teerosen hingestellt. Außerdem hat Ihr Vater einen Zettel mit einer Telefonnummer unter einen Kiefernzapfen gelegt.«
»Sie war also da«, sagte er und bat mich, ihm die Rosen zu beschreiben, und seine Stimme kam so tief aus dem Abgrund, dass ich für ihn die Blätter jeder einzelnen Rose gezählt hätte, wenn er es gewollt
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