Wodka und Brot (German Edition)
meinen anderen Sorgen ganz nach unten gesunken. Sollte Madonna doch mit ihnen lachen, sollte sie ihretwegen mit Amjad streiten, sollte sie ihnen etwas umsonst geben, sollte sie das ganze Bier wegtrinken, das war mir alles egal.
»Bist du noch da, Amia?« Jonathan war ebenso zielgerichtet wie früher, in unserer Kindheit, als es um die Jagd auf Nazis ging, er sagte, von der Polizei sei nichts zu erwarten, wir sollten ihn selbst suchen, denn jede Minute konnte kritisch sein … »Du kennst ihn am besten, hast du eine Ahnung, wo er sich gern aufhält? Wo könnte er hingegangen sein?«
»Keine Ahnung. Ich kenne ihn inzwischen nicht mehr.« Ich erschrak vor dem, was mir entschlüpft war, und noch mehr erschreckte mich das Wort »kritisch«, ich schaute zum Laden hinüber, um mich an Brot und Öl festzuhalten, die nichts Kritisches an sich hatten. Ich sah, dass Madonna die Lippen bewegte, und was sie sagte, amüsierte die Zigarettenkonsumenten, die ihr gegenüberstanden und lachten. Ein solches Lachen am Morgen? Bei ihnen war entweder alles super oder alles beschissen, wer konnte das wissen.
»Mach alles so, wie du es für richtig hältst«, sagte ich zu Jonathan, den die Sorge mit der gleichen Intensität wie die Religion bewegte. Innerlich dankte ich ihm dafür, dass er sich vorläufig des Mitleids enthielt.
Ich ging zum Laden zurück. Amjad betrachtete mich prüfend vom Platz mit den Cornflakes aus, und weil er nichts Besorgniserregendes an mir entdeckte, wartete er nicht auf eine günstigere Gelegenheit und sagte: »Ich fange in zwei Tagen beim Supermarkt an.«
»Viel Erfolg.« Ich sagte es kurz angebunden und lakonisch, aber ich hoffte wirklich, dass er Erfolg haben würde, von meinem Laden konnte er keine große Rettung für seine kleinen Kinder und sich selbst erwarten.
»Morgen ist mein letzter Tag«, fügte er hinzu, als er sah, dass mein Gesicht unbewegt blieb, als hätte ich nichtkapiert, dass die Katastrophe übermorgen stattfinden würde.
Es kommt, wie es kommt. Mir blieb nichts anderes übrig, Madonna würde den Laden einen oder zwei Tage versorgen, bis Gideon wieder in unser Leben zurückkam, was konnte schon passieren? Dass sie Wodka klaute? Dass sie die Kasse leerte? Dass sie aus dem Laden eine Räuberhöhle machte? Sollte sie doch. Das war keine lebenswichtige Frage. Nicht vor dem Hintergrund eines Mannes, der vor über zwanzig Stunden sein Krankenhausbett verlassen hatte und spurlos verschwunden war. Wieder kontrollierte ich die Funktionstüchtigkeit meines Handys und ob Gespräche oder SMS eingegangen waren, und wieder hörte ich den Anrufbeantworter zu Hause ab. Wieder schaute ich die Straße hinunter, ging vom Brot zur Milch, von der Milch zur Schokolade und von dort zum Lager und vom Lager zur Theke, ich fand einfach keine Ruhe. Meine beiden Helfer verhielten sich wie im Haus eines Verstorbenen, sie erledigten ihre Aufgaben in angespannter Ruhe und ließen mich nicht aus den Augen. Sie sollten mich bloß nicht bemitleiden, diese beiden. Ich nahm die Schlüssel des Mazda und meine Tasche, sagte, ich habe noch etwas zu erledigen, und verließ den Laden.
Amos saß zwischen den übrigen Leidenden Zions und Jerusalems in der Lobby, nicht weit von den Aufwachräumen. Ich entdeckte ihn schon vom Eingang aus, er las eine Zeitung und fiel durch seine kalte Distanziertheit und seine übertrieben aufrechte Haltung auf. Obwohl er in der Nacht geschlafen hatte, machte er einen müden Eindruck, er sah älter aus und glich seinem Vater. Ich ging auf ihn zu, bis mein Schatten auf seine Zeitung fiel und er den Blick hob.
»Du siehst schlecht aus«, sagte er.
»Takt ist nicht gerade deine starke Seite«, antwortete ich und blieb stehen, obwohl der Platz neben ihm frei war. »Wie geht es ihm?«
»Einstweilen beschissen, aber er wird es schaffen, er ist ein zäher Brocken«, sagte er.
»Kann man zu ihm rein?«
»Wenn du keine Angst hast. Er ist absolut unsympathisch.«
Ich hätte nicht unterschreiben können, dass der Knochenhaufen in dem Gewirr aus Schläuchen im Bett Nummer drei tatsächlich mein Hausherr war. Aber da gab es den Namen, der am Bett klebte, und die Augen. Erst gingen sie weit auf, drängten die Brauen erstaunt nach oben, bevor sie sich plötzlich schlossen.
»Wozu sind Sie gekommen?«, flüsterte er zornig. Die Narkose, die er hinter sich hatte, hatte seine Kehle trocken und rau gemacht. »Geben Sie ihm ja nicht meinen Schlüssel«, sagte er so langsam und so deutlich, als habe er seine
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