Wodka und Brot (German Edition)
insgeheim zu dem Schluss, dass die Chance gleich null war, dass ihr Ungeborenes jemals solchen Szenen beiwohnen müsse.
Jonathan ging zum Fenster und schaute in die Nacht hinaus, dann drehte er das Gesicht zum Zimmer und sagte, es sei besser, übertrieben vorsichtig zu handeln, statt es später zu bereuen: »Und außerdem ist es auch eine Frage des religiösen Gebots, Amia. Es steht geschrieben: Du sollst auch nicht stehen wider deines Nächsten Blut. Auch wenn du beschließt, dass du nicht … Ich werde es tun …«
»Keine Frage des religiösen Gebots. Hier steht niemand auf Blut, denn es gibt kein Blut, und hör damit auf, die Religion in alles zu schieben.« Religiöse Gebote. Endlich hatte ich den Sündenbock gefunden, um Dampf abzulassen. Keinen atmenden, lebendigen, verletzlichen, keinen Ziegenbock. Religiöse Gebote. Ein Sandsack, man kann machen, was man will, er wird alles überleben. Verfluche ihn, verleumde ihn, schrei ihn voller Verachtung an, und was tut er? Nichts. Er schwillt von Tag zu Tag an, gewinnt an Gewicht, und die, die in seinem Namen sprechen, vermehren sich.
»Halte die Religion draußen, Jonathan. Begnüge dich mit der Vernunft. Du wendest dich an keine police , es eilt doch nicht, oder?« Meine Worte entsprachen nicht meinem Bauchgefühl. Ich hatte eine Todesangst. Es fiel mir schwer, zuzugeben, dass Jonathan recht hatte, Gideon war nicht mehr der Mensch, den ich geheiratet hatte, und den neuen kannte ich nicht. Wohin war er gegangen, warum war er weggegangen, hatte er einen großen Vorrat an Tabletten ausdem Krankenhaus mitgenommen, was würde er mit ihnen tun? Und wie gehören Herde und System hierher? Angenommen, der Mensch wurde plötzlich von dem Abscheu vor einem bürgerlichen Leben und noch einigen anderen Grundsätzen und Werten gepackt, was hatte das mit der Trennung von dem Jungen zu tun, von mir, von seinen Eltern? Ein normaler Mensch findet irgendeinen Weg, mit der Verantwortung, dem Gefühl und der Lebensführung zurechtzukommen, er verlässt kein Bett im Krankenhaus und verschwindet. Was ist die Schlussfolgerung? Dass Gideon nicht mehr normal ist? Dass er kurz davor ist, sich in irgendein Wasser zu stürzen? Sich in einer öffentlichen Toilette die Pulsadern aufzuschneiden? Einem Wachmann eine Pistole zu stehlen und sich eine Kugel in die Schläfe zu jagen? Ein Flugzeug zu entführen? Ich drückte meine Knie gegen die Hüfte des Jungen, ich klammerte mich an das einzig Reale, das ich besaß, und der Junge spielte mit, er kam näher und drückte sich an meine Brust.
»Gut, Jonathan, tu das, was du für richtig hältst.« Ich senkte die Stimme und hob die Hände. Ich stand auf, suchte die Dinge zusammen, die noch im Zimmer herumlagen, schloss den Koffer, die Beschläge schlugen gegeneinander, und der Junge ging zur Tür. Wir verzichteten auf einen gefühlvollen Abschied, das Drama, in dem wir steckten, war schon groß genug, wir verhielten uns, als würden wir uns jeden Tag treffen und jeden Tag verabschieden. Die Luft draußen war klar, der neue Mond stand am Himmel, schmal und golden wie die Wimper eines Säuglings, in der Ferne bellten Hunde, Geschirr klapperte in Spülbecken, schreiende Babys wurden ins Bett gebracht, die Welt ging einfach weiter, der Atem, der in einer einzigen Brust stockte, konnte sie nicht rühren.
»Los, ins Auto«, sagte ich zu dem Jungen.
Tamar wünschte uns gute Nachrichten, auch Jonathan sagte »gute Nachrichten« und küsste den Jungen. Sie winkten, wir stiegen ins Auto, und wie andere übernatürliche Phänome, die manchmal vorkommen, spielte das Radio »Ich hatte einen Freund, ich hatte einen Bruder, er reichte mir in der Not die Hand«. Ich weinte. Es war dunkel im Auto, und der Junge sah nichts, er saß angeschnallt in seinem Rücksitz, ließ Autos über den Sitz fahren und summte Autogeräusche. Aus Sicherheitsgründen ließ ich meinem Weinen nicht freien Lauf, Tränen waren gefährlich, ich bemühte mich, den Blick auf die freie Fläche zwischen den Trübungen zu konzentrieren. Wer hätte gedacht, dass wir am zweiten Tag des Jahres von einem großen Unglück getroffen würden. Wieso denn das. Wir wurden nicht von einem großen Unglück getroffen. Ein großes Unglück war ein Junge, der von einem Auto totgefahren wurde, und das größte Unglück war, dass er vom Geländewagen seines eigenen Vaters überfahren wurde. Was war denn schon passiert? Ein Mann war aus dem Bett gestiegen und hatte das Krankenhaus verlassen, ohne es mir
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