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Wodka und Brot (German Edition)

Wodka und Brot (German Edition)

Titel: Wodka und Brot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mira Magén
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mitgeteilt zu haben. Das war alles.
    »Komm, Nadav, singen wir. Ein Jahr ist vergangen. Ein neues Jahr kommt. Ich erhebe meine Hände …«
    Er ließ sich von meiner Fröhlichkeit anstecken, er stimmte ein und sang aus kleiner Kehle, wir sangen schreiend, so laut wir konnten, wir stießen literweise Luft aus, die uns auf der Brust saß und uns bedrückte, und vor lauter Schreien mussten wir lachen, die Wörter wurden unverständlich und gerieten durcheinander, und wir lachten noch mehr. Uns kamen die Tränen vor Lachen, und diese Tränen hielt ich nicht zurück, Mama, noch ein Lied, »Zehn Finger habe ich,sie wissen alles …« Der Junge geriet ganz aus dem Häuschen, er hüpfte und schlug von hinten gegen die Lehne meines Sitzes, sang aus voller Kehle, brachte sich selbst zum Lachen, um ja nicht zur Ruhe zu kommen. Solange wir im Auto saßen und es mit Lärm füllten, würden die schlechten Nachrichten draußen bleiben. Wir erreichten das Dorf, und je länger wir über die Dorfstraße fuhren, umso lauter wurde er. »Wem es gut geht und wer fröhlich ist, soll in die Hände klatschen.« Aber seine Stimmbänder waren schon geschwollen und aufgeraut, seine Stimme kam heiser und belegt heraus. Wodka erwartete uns nicht, vermutlich stellte er einer zufälligen Geliebten auf irgendeinem Bauernhof nach.
    »Ich habe eine Stimme, als würde ich bellen«, sagte Nadav und half mir, den Koffer aus dem Mazda zu laden. Er nahm seinen kleinen Rucksack, in den er ein Kartenspiel und eine Zahnbürste und ein paar bewaffnete Plastiksoldaten gepackt hatte, und ich trug den Koffer. Er lief vor mir den Pfad entlang, der zum Haus führte, den Kopf zum Boden gesenkt, er lief vor mir, und zwischen uns war es still und dunkel. So fängt die Fremdheit an, was wir auch tun, sie wird wachsen, die dünnen Fäden um ihn herum werden sich straffen, und es wird schwerer und schwerer werden, ihn zu berühren, nicht, weil ich daran schuld bin oder er, sondern weil das unser aller Schicksal ist. Und genau aus diesem Grund ist Gideon unfähig, mir zu sagen, was er hat, und ich schaffe es nicht, zu ihm durchzudringen. Wir waren ein Fleisch, wie es die Bibel befiehlt, doch unsere Seelen lebten getrennt weiter, im Guten wie im Schlechten. Es ist eine Dummheit, an eine vollständige Vereinigung zu glauben. Die Bibel weiß genau, warum sie nur vom Fleisch spricht. Ich machte das Licht im Haus an. Vielleicht würdenwir ihn ja hier in der Küche finden, grübelnd am Tisch sitzend, oder schlafend in einem der beiden Zimmer. Ich hörte den Anrufbeantworter ab, kontrollierte mein Handy. Nichts.
    Das Spülbecken in der Küche war leer, ein einzelnes Glas stand umgedreht auf dem Trockengestell. Ich machte die Tür zum Badezimmer auf, zur Toilette, nichts. Ich ging in die Küche zurück und bemerkte den Zettel, der auf dem Rand des Tischs lag. Ich trat einen Schritt zurück, um das Lesen hinauszuzögern, mein Herz zu organisieren. War er hier vorbeigekommen? Hatte er Sachen mitgenommen und geschrieben, dass er für immer weggegangen war? Hatte er beschlossen, sich umzubringen? Sich von uns zu trennen? Bat er uns um Verzeihung? Dass wir seinen Eltern Bescheid sagen sollten? Ich packte den Zettel, hielt ihn an einer Ecke wie eine brennende Zündschnur und las: »Levi ist gestern operiert worden. Ich war bei ihm. Ich werde spät in der Nacht kommen. Amos.« Ich küsste das Papier, nicht wegen dem, was darauf geschrieben stand, sondern wegen dem, was nicht darauf stand. Ich atmete für zehn Lungen, ich stützte mich auf den Tisch und sagte zu dem Jungen: »Ich werde heute Nacht wieder bei dir schlafen.«
    »Kommt der Sohn von Herrn Levi?« Seine Augen leuchteten auf.
    Ich will den Kelch des Heils nehmen.
    Ich prüfte, ob die Telefone angeschlossen waren, ob bei dem einen der Hörer aufgelegt war und ob das andere an das Ladegerät angeschlossen war, ich zog den Schlüssel aus der Tür, ließ im Flur Licht an und legte mich neben den Jungen schlafen.
    Das Drehen eines Schlüssels im Schloss weckte mich. Gideon! Ich stand auf und sah, dass der Schatten im Flur zuHerrn Levis Sohn gehörte, der Zettel fiel mir ein, ich legte mich wieder ins Bett. Er schloss hinter sich ab, und obwohl er sich schnell und auf Zehenspitzen bewegte, hörte ich die kleinsten Geräusche in der Toilette, in der Dusche, das Rascheln von Kleidungsstücken, die ausgezogen wurden und vom Körper glitten, die Schnallen, die an den Sandalen geöffnet wurden, den Körper, der sich im Bett bewegte und

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