Wodka und Brot (German Edition)
ganze Kraft für diesen Satz aufgespart. Er rang nach Atem, das Laken, mit dem seine Brust bedeckt war, hob und senkte sich mit erschreckender Langsamkeit. »Ich habe eine Schachtel mit Schuhen, er darf sie nicht anfassen, er darf nicht …« Die Luft reichte ihm nicht, er schwieg.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Levi, ich passe auf den Schlüssel auf.«
Er war grau, schwach und unrasiert, auch auf seinem dünnen Hals wuchsen spärliche graue Stoppeln. Seine Lider waren dünn und durchsichtig, die Äderchen darunter rot und geschwollen. Seine großen Ohren waren welk, der Schädel kahl und blass. Alles andere war von einem Laken bedeckt. An Ständern schaukelten Beutel, aus denenSchläuche kamen und unter dem Laken verschwanden, andere Schläuche führten unter dem Laken heraus zu Flüssigkeitsbeuteln, Urin, Blut, der Teufel weiß, was noch. Ich wollte mich erbrechen und protestieren. Es konnte doch nicht sein, dass alles, was Herrn Levi ausmachte, eine Ansammlung von Flüssigkeiten war, die in ihn hinein- und aus ihm herausflossen, und ein Schädel voller Zorn.
Ich bat ihn nicht um Erlaubnis und tastete unter dem Laken nach seiner Hand, bis ich die fremde Haut fühlte, seine Hand war hart, kalt und feucht. Ich gab ihm die Hand, wie man es bei einem Kind tut, er kniff die Augen zusammen, und ein paar vereinzelte Tränen liefen heraus, gelb geworden in den Jahren. Zehn Jahre, wenn nicht länger, hatte keiner mehr nach seiner Hand gesucht und nach ihr gegriffen. Ich fürchtete, die Rührung könnte den Blutkreislauf zu seinem genähten Herzen beschleunigen und die Nähte könnten dem Druck nicht standhalten und würden aufgehen. Ich nahm meine Hand von seiner, strich das Laken an der betreffenden Stelle wieder glatt. »Gute Besserung, Herr Levi. Wir passen auf das Haus auf.« Ich wandte mich zum Gehen und achtete darauf, nicht nach rechts und links zu den anderen Patienten zu schauen, unter denen vielleicht jemand seine Existenz auf dieser Welt schon beendet hatte.
»Gesund oder nicht gesund, das ist egal«, sagte er, wieder zu Atem gekommen. »Am Schluss sterben alle.« Er hustete, sein Gesicht verzerrte sich einen Moment, dann hatte es wieder den zornigen, armseligen Ausdruck von früher.
»Du könntest ebenfalls ein Bett im Aufwachraum brauchen«, sagte Herr Levis Sohn, als ich aus dem Zimmer kam.
»Ich brauche einen Kaffee, das ist alles.«
Wir gingen durch lange Gänge zur Cafeteria, ohne ein Wort zu wechseln. Ich hatte Mühe, mich seiner Geschwindigkeit anzupassen, und atmete schwer. Als ich mein Spiegelbild in der Tür der Cafeteria sah, musste ich ihm recht geben, ich sah schrecklich aus. Wir fanden einen freien Tisch für zwei, tranken Filterkaffee aus Wegwerfbechern.
»Möchtest du Kuchen, ein Sandwich, irgendetwas?«
Ich wollte nichts. Wieder kontrollierte ich mein Handy, und während ich den Anrufbeantworter von zu Hause abhörte, schob mir der Sohn des Alten den Zucker zu, seiner Meinung nach brauchte ich dringend Glukose.
Ein Mann und eine Frau trinken Kaffee und schweigen. Worüber kannst du mit ihm sprechen, wenn dein Mann verschwunden ist, einfach weg? Über das Wetter? Und er, nachdem ihn das schlimmste aller Übel getroffen hatte, was konnte ihn noch bewegen? Man muss sich nicht unterhalten. Man kann schweigen und in den Kaffee starren oder die kranken oder gesunden Gestalten betrachten, die essen, bezahlen, aufstehen und weggehen. Für Tiere ist es kein Problem, nebeneinander zu liegen und zu schweigen, zum Beispiel Kühe. Sie existieren, und das ist alles, sie sind weder traurig noch fröhlich, sie wissen nichts vom Schlachthaus am Ende ihrer Zukunft. Früher, wenn ich mit Gideon in einem Café saß, hatten erloschene Paare zu uns herübergeschielt, erstaunt, dass wir etwas hatten, worüber wir reden konnten, dass bei uns die ganze Sache noch so lebendig war. Wir unterhielten uns über die Zukunft, darüber, was wir anziehen und wo wir wohnen würden, wenn wir reich und berühmt wären, wir lachten über die Vergangenheit, analysierten die Gegenwart, fütterten einer den anderen, saßen nebeneinander, nicht einander gegenüber, und wenn wir plötzlich schwiegen, dann war es, weilder geräucherte Lachs kam und unsere Zungen sich vom Plappern ausruhten und den Fisch genossen.
Nun schwieg ich, und auch der Mann mir gegenüber schwieg, trotzdem tranken wir langsam, keiner von uns hatte es eilig, den Becher schnell leer zu trinken und die Gelegenheit zu verkürzen. Fremde sind so weit
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