Wölfe und Kojoten
also
ging ich wieder hinaus. Mit einem Bein meiner Jeans war ich an etwas
hängengeblieben. Ein winziges, verdorrtes Bäumchen. Das bedauernswerte Ding
hatte keine Überlebenschance gehabt auf diesem unwirtlichen Boden. In seinen
brüchigen Zweigen hatten sich ein paar Papierfetzen verfangen. Ich streifte sie
ab. Ruhe in Frieden.
An einem der Fetzen blieb mein Blick
plötzlich hängen. Ich hob ihn auf und strich ihn glatt: US-Justizministerium,
Abteilung für Einwanderung und Einbürgerung, Eidesstattliche Versicherung. Das
Formular, das illegalen Einwanderern von den Grenzpatrouillen ausgehändigt
wird, war achtlos weggeworfen worden. Wieder war ein Versuch, über die Grenze
zu kommen und die wilden Cañons mit den Klapperschlangen, Skorpionen und
Banditen zu durchqueren, gescheitert. Aber was machte das schon? Der Illegale —
in diesem Fall eine Frau namens Maria Torres — würde bald wieder da sein, und
weitere würden folgen, ein endloser Strom. Ich ließ das Papier fallen.
Dann kehrte ich der Hütte, in der so
vieles zu Ende gegangen war, den Rücken und ging zum Rand der Mesa vor. Von
hier aus waren in der Ferne rechts die Wolkenkratzer von San Diego zu erkennen
und davor das verödete Flußbett des Tijuana. Der Fluß selbst war schon vor
langer Zeit aus seinem ursprünglichen Bett abgeleitet worden und schlängelte
sich nun hier mit den giftigen Abwässern aus Mexiko westwärts. Direkt vor mir
mündete er in den bleigrauen Pazifik. Links erstreckte sich Baja California.
Eine Hubschrauber-Grenzpatrouille knatterte über mich hinweg.
Ich sah nach Süden. Auf dem
mautpflichtigen Freeway rollte der Verkehr von der Grenze, hinter der die
pastellfarbenen Häuser von Tijuana mit ihren Blech- und Ziegeldächern lagen,
fort. Am Rand der Stadt erstreckte sich einsam die berühmte Stierkampfarena.
Sie glich einer riesigen Satellitenschüssel, die ganz Baja versorgen könnte.
Ich starrte auf den Grenzzaun aus schwarzen Stahlplatten, der sich über den
zerklüfteten Hügelkamm zog. Er erinnerte mich an Kranzschleifen aus schwarzem
Satin, wie man sie von Trauerkränzen kennt.
Ich blieb lange dort stehen, nahm die
Umgebung in mich auf und überließ mich meinen Gedanken. Der Spruch »Such dir
aus, was du davon gebrauchen kannst, den Rest wirf fort« fiel mir ein. Plötzlich
wurde der träge Fluß meiner Gedanken zu einem reißenden Strom, der unaufhaltsam
einer ganz offensichtlichen Schlußfolgerung entgegentrieb. Als meine Gefühle
endlich zurückkehrten, waren es andere als die, die ich erwartet hatte. Ich
drehte mich um und rannte zurück zu Andrés, der noch immer nachdenklich auf das
Meer hinausschaute.
Ich war an diesem Morgen zu einer
Pilgerfahrt aufgebrochen in dem Glauben, daß alles aus und vorbei wäre. Jetzt
wußte ich, daß meine Suche erst begann.
Lieutenant Gary Viner von der
Mordkommission in San Diego hatte die gleiche High-School-Klasse besucht wie
mein älterer Bruder Joey. In meiner Erinnerung war er das unauffällige Mitglied
eines Pulks von Jungen, die sich immer wieder vor unserem Haus versammelten, um
die Köpfe in den Motorraum klappriger Autos zu stecken. Er war immer noch
genauso unauffällig: schütteres sandfarbenes Haar, graue Augen, sanfter, fast
ausdrucksloser Blick und ein dünner Schnurrbart, der wohl aus Enttäuschung über
die eigene Unzulänglichkeit schlaff herabhing. Doch im Gespräch merkte ich
bald, daß sich hinter diesem sehr gewöhnlichen Äußeren nicht nur ein scharfer
Verstand verbarg, sondern auch ein hervorragendes Gedächtnis.
»Ich hätte mir nie träumen lassen, daß
du mal in meinem Büro auftauchst«, sagte er und forderte mich auf, mich zu
setzen. »Du hast dich kaum verändert. Ißt du immer noch tonnenweise
Schokolade?«
»Nicht mehr ganz so viel wie früher.«
Viner klopfte auf den Ansatz seines
Bierbauchs. »So geht’s. Man quillt auf und wird fett wie ein Schwein, wenn man
nicht aufpaßt. Man kann halt nichts dagegen machen, aber du bist schlank wie
immer. Ich nehme an, du hast diesen Muskelprotz nicht geheiratet, den
ehemaligen Kapitän unserer Schwimm-Mannschaft? Wie hieß er noch?«
»Bobby Ellis.« Als ich den Namen
aussprach, stieg ein leichter, unerklärlicher Groll in mir hoch. Bobby war
meine große Jugendliebe gewesen. Mit ihm war meine Unschuld dahingegangen, und
dann hatte er mich wegen einer anderen sitzenlassen, die seinen aufstrebenden
Eltern besser ins gesellschaftliche Konzept paßte. Jetzt merkte ich, wie froh ich war, daß ich
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