Wölfe und Kojoten
Ich hielt mich an einem Ast fest,
schwang meine Beine darüber und robbte auf die Plattform. Sie war gerade groß
genug, daß ich mich auf den Rücken legen und durch die Zweige in den Himmel
sehen konnte.
Und wieder tauchten meine
Schattengestalten auf...
Hys Blick, als ich am Abend meiner
endgültigen Rückkehr zum Tufa Lake sein Haus betrat: Ungläubigkeit lag darin,
die Freude Platz machte und dann einem selbstgefälligen Ich-habe-es-ja-gewußt.
An jenem Abend hatten wir uns zum
erstenmal geliebt — Hys Stimme war so rauh, seine Hände so zärtlich, sein
Körper...
Nein! Gerade diese Schattengestalt
konnte ich nicht ertragen.
Ich sollte mich lieber an unschönere
Gelegenheiten erinnern: an meine Enttäuschung und meinen Ärger darüber, daß er
mit steinernem Gesicht ablehnte, über seine Vergangenheit zu sprechen; an die
Art, wie er bei mir die leiseste Spur von Unaufrichtigkeit oder Verstellung
erkannte und auf unbarmherzige Weise nicht lockerließ, bis ich es eingestand;
und an das eine Mal, als er zu weit gegangen war und ich einen Topf voll
gekochtem Spinat an die Küchenwand geschmettert hatte.
Als der Spinat zähflüssig wie Schlick
in einem Science-fiction-Film die Wand hinunterlief, mußten wir beide lachen.
Wir hatten viel miteinander gelacht und
im wahrsten Sinne des Wortes unseren Horizont erweitert. Noch jetzt spürte ich
das aufregende Herzklopfen, als ich das erstemal die Citabria steuerte. Und
dann meine perfekte Drei-Punkt-Landung, die mir ganz zufällig gelungen war und
einen erfahrenen Flieger wie Hy in Erstaunen versetzte. Vor einer Woche erst
waren wir in die White Mountains geflogen. Ich hatte wieder die Goldadler vor
Augen, die wilden Mustangs, die Borstenkiefern...
Borstenkiefern sind die ältesten
Lebewesen auf Erden — manche sind über viertausend Jahre alt. Hy war
einundvierzig geworden. Jetzt weinte ich. Ich lag auf dem Rücken, und die
Tränen liefen mir über die Schläfen ins Haar. Ich weinte gegen meinen Willen,
denn eigentlich konnte ich es mir nicht leisten. Ich mußte mich mit diesem
furchtbaren Geschehen auseinandersetzen, das Hy und mich getroffen hatte. Aber
ich weinte und konnte nicht aufhören. Ich... konnte... einfach... nicht...
aufhören...
In den letzten drei Tagen hatte sich
alles, was in meinem Leben Bedeutung hatte, verändert. Zu meiner Vergangenheit
hatte ich keinen Zugang mehr, und die Gegenwart lag in Scherben. Eine Zukunft
konnte ich mir nicht vorstellen.
Nichts konnte wieder so werden, wie es
war.
Donnerstag, 10. Juni
16
Die Mesa war die trostloseste Gegend,
die ich je gesehen hatte.
Ich stieg aus dem Scout und folgte
meinem Führer über den steinigen Boden, auf dem nichts wuchs außer Büffelgras
und dem stacheligen Cholla-Kaktus. Der Morgen war wolkenverhangen, die Luft
salzig-feucht — ein Hundewetter. Von der flachen, grauen See her blies ein
scharfer, eisiger Wind herauf.
Vor uns fiel das Gelände ab und ging in
flaches Weideland über, so weit das Auge reichte. Hier stand die verfallene
Lehmhütte. Ein paar Meter davor blieb Andrés, der mich geführt hatte, stehen
und wartete auf mich. »Da ist es passiert«, sagte er mit gedämpfter Stimme.
Ich sah zur Hütte hinüber, doch ich
spürte nichts. Ich sah bloß ein verfallenes Relikt aus einer vergangenen Zeit,
das aus Erde gemacht war und nun wieder zu Erde wurde. Ich ging vor und drehte
mich nach meinem Begleiter um. Er war mit verschränkten Armen stehengeblieben
und starrte entschlossen auf den Pazifik hinaus. Abergläubisch, dachte ich, und
trat allein näher.
Das Dach der Hütte war eingestürzt, und
zwei Mauern lehnten in einem merkwürdigen Winkel aneinander. Durch eine
Öffnung, in der früher einmal die Tür gewesen sein mußte, betrat ich den Boden
aus festgestampfter Erde. Ziegel lagen herum, und in den Ecken hatte sich
Abfall angesammelt. Rauch hatte den fahlen Lehm geschwärzt.
Ich spürte noch immer nichts. Noch
immer kein Gefühl des Verlusts, der Trauer oder des Grauens — auch keine der
Schockwellen, die mich jedesmal angesichts eines gewaltsamen Todes erfassen.
Dabei hätte mich das, was hier geschehen war, tiefer treffen müssen als alles
andere.
Was ist los mit dir? fragte ich mich.
Deine Tränen können doch nicht schon nach einer einzigen Nacht versiegt sein.
Ein paar Minuten lang stand ich still
da und wartete — wartete auf irgend etwas. Ich wollte meine Gefühle wieder
spüren können. Doch ich wußte nicht, wie ich das hätte bewirken können,
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