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Wölfe und Kojoten

Wölfe und Kojoten

Titel: Wölfe und Kojoten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Das Zwei-Millionen-Dollar-Akkreditiv? Irgendwie hatte das nun
keine Bedeutung mehr.
    »Ich möchte auf diese Mesa«, sagte ich
zu Luis.
    »Da gibt es nichts zu sehen«, sagte er
freundlich. »Dafür wird Salazar gesorgt haben.«
    »Das ist mir egal. Ich will sehen, wo
es passiert ist.«
    »Es ist dunkel. Es ist zu gefährlich.«
    »Also gleich morgen früh.«
    Abrego und John wechselten Blicke.
    »Ich werde hinfahren, so oder so.«
    »Ich habe noch einen unerwarteten
Auftrag bekommen«, sagte Luis. »Ich muß ein paar Leute nach Norden fahren. Ich
muß aufbrechen, bevor es hell wird. Warten Sie, bis ich zurück bin, dann bringe
ich Sie hin.«
    »Ich muß sofort hin.«
    »Ich komme mit«, sagte John.
    »Nein.« Meinen Bruder wollte ich nicht
dabeihaben. Er sollte meinen Schmerz nicht sehen. Auf dieser Pilgerfahrt mußte
ich allein sein.
    Luis schien das zu verstehen. »Ich
besorge jemanden, der die Gegend kennt und Sie führen kann. Es ist Andrés, mein
Nachbar. Bei Tagesanbruch finden Sie ihn vor meinem Haus, er bringt Sie hin.«
    »Bestimmt?«
    »Seien Sie nur da.« Abrego drehte sich
um und ging zu seinem Dodge und hob die Hand zu einem traurigen Lebewohl.
    »Ich fahre«, sagte ich zu John und
streckte die Hand nach den Schlüsseln aus.
    »Bist du sicher?«
    »Ja.«
    Ich fuhr vorsichtig, konzentrierte mich
auf jeden Handgriff und verdrängte alles andere aus meinen Gedanken. Wenn ich
ihn nach Lemon Grove fahren und mich dann ins Haus meines Vaters zurückziehen
konnte, war alles in Ordnung. Als ich ihn an der Auffahrt zu seinem Haus
absetzte, zögerte er und trat dann an mein Fenster. Er beugte sich herein und
küßte mich auf die Stirn — eine seltene Geste in unserer Familie.
    »Wenn du etwas brauchst, ruf mich an.«
    »Okay.«
    »Ruf mich morgen auf jeden Fall an.«
    »Okay.«
    »Kindchen...« Er brach ab und verzog angestrengt
das Gesicht.
    »Was ist?«
    »Ich hab dich lieb. Vergiß das nicht.«
Dann zog er verlegen die Schultern hoch und eilte davon.
    »Ich dich auch, großer Bruder«,
flüsterte ich.
    Ich wendete und fuhr nach Mission
Hills.
     
    Noch nie war mir das große Haus so leer
vorgekommen. Ich ging durch grau verstaubte Zimmer, berührte vertraute
Gegenstände und dachte an glücklichere, leichtere Zeiten. Während meiner
Wanderung wurde die Atmosphäre immer bedrückender für mich. Nun mußte ich mich
nicht nur mit meinen Erinnerungen auseinandersetzen, sondern auch mit den
Schattengestalten von Hy und mir.
    Als wir uns kennenlernten, nannte er
mir seinen etwas ungewöhnlichen Namen: »Heino Ripinsky«, sagte er, und ich
mußte lächeln. »Lachen Sie nicht«, sagte er und hielt den Zeigefinger wie eine
Pistole auf mich gerichtet. »Wagen Sie ja nicht zu lachen!«
    Diese Nacht im vergangenen Herbst, als
wir uns in einem Ruderboot auf dem Tufa Lake treiben ließen. Damals offenbarte
ich ihm meine Ängste und meine dunkle Seite, über die ich bis dahin noch mit
keiner Menschenseele auch nur andeutungsweise gesprochen hatte. Er verstand
mich, und er verurteilte mich nicht, weil er selbst oft genug Opfer seiner
eigenen dunklen Triebe geworden war.
    Und dann der Morgen, an dem wir uns
schweigend auf dem Oakland Airport verabschiedeten und ich dachte, das wäre das
Ende unserer zerbrechlichen Beziehung. Aber er rief mir im Fortgehen nach:
»Gut, daß du nicht auf Wiedersehen gesagt hast. Es hat nämlich noch gar nicht
begonnen mit uns.«
    Nun war es ein für allemal aus. Wie
lange würde es wohl dauern, bis jemand die Lieferung meiner wöchentlichen Rose
beim Blumenhändler stoppte?
    Hör auf, sagte ich zu mir selbst. Hör
auf! Du kannst dir diese Art von Selbstmitleid nicht leisten.
    Ich ging ins große Wohnzimmer, öffnete
die Schiebetür und trat hinaus. Der Himmel war wieder bedeckt. Dünne Wolken
verschleierten den Mond. Stille im Cañon, Stille in den Häusern ringsumher.
Todesstille überall.
    Ich ging zum Rand des Cañons an den
Zaun und schob das quietschende Tor auf. Mit dem Fuß tastete ich nach der
obersten Steinstufe im Hang. Langsam stieg ich hinunter, wobei ich mich an den
struppigen Büschen festhielt. Unten blieb ich eine Weile stehen und versuchte,
die Dunkelheit zu durchdringen. Schließlich erkannte ich die Umrisse der Eiche,
in der noch die Reste unseres Baumhauses hingen. Über Steine und Äste
stolpernd, tastete ich mich dorthin. Die Plattform der Hütte war noch
vollständig, und ich war jetzt groß genug, um ohne die Hilfe der längst
verrotteten Strickleiter hinaufzuklettern.

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