Woerter durchfluten die Zeit
Pessoa
5. Kapitel
Nathan verließ die Bibliothek im Laufschritt. Das konnte nicht sein. Gut, bereits ihre Augen hatten ihn stutzig werden lassen. Aber er hatte es nicht wahrhaben wollen. Sein Großvater hatte ihm versichert, dass es keine mehr gab. Und ausgerechnet dieses zierliche Mädchen sollte eine von ihnen sein? Es erschien ihm unmöglich. Sie wirkte harmlos, wenn man von ihrer Kratzbürstigkeit absah. Und doch hatte sie, schon als er sie das erste Mal gesehen hatte, seine Aufmerksamkeit geweckt. Von Nahem sah sie der Frau auf dem Bild beängstigend ähnlich.
Und das Mal war eindeutig. Es ließ jeden Zweifel daran, wer sie war, verschwinden. Was wusste sie, fragte er sich. Weshalb überließ sie ihm das Buch? Etwas passte da nicht zusammen.
Jetzt musste er mit seinem Großvater über das Problem reden.
In der Queen Anne’s Gate angekommen, griff er zum Telefon. Er wählte die vertraute Nummer und wenige Sekunden später hörte er die Stimme seines Großvaters.
»Was willst du?«, fragte dieser unwirsch.
»Wir haben ein Problem«, erklärte Nathan, wissend, dass er seinen Großvater bei seinen Studien störte. Batiste de Tremaine hatte einen festen Tagesablauf.
Aber darauf konnte er heute keine Rücksicht nehmen.
»Was soll das für ein Problem sein?«
Nathan schwieg einen Moment.
»Eine Hüterin«, antwortete er dann langsam.
Am anderen Ende breitete sich Stille aus.
»Bist du dir ganz sicher?«, kam es durch die Leitung.
»Ja.«
»Hat sie dich erkannt?«
»Ich denke nicht.«
»Du wirst morgen mit dem ersten Zug herkommen. Wir werden das Problem lösen, bevor es zu einem wird.«
»Ich habe morgen ein wichtiges Seminar, Großvater«, wandte Nathan ein. »Genügt es nicht, wenn ich am Wochenende komme?«
»Keine Widerrede. Ich erwarte dich morgen Mittag in meinem Büro.« Mit diesen Worten legte er auf.
Nathan sah auf den Hörer in seiner Hand. Kam es wirklich auf die zwei Tage an? Doch er war es gewohnt zu gehorchen. Er holte seinen Laptop hervor und schrieb Professor Wyatt eine Mail, in der er erklärte, dass dringende private Umstände ihn zu seinem Großvater riefen. Der Professor würde ihm keine Vorwürfe machen. Er und sein Großvater waren beinahe ein ganzes Leben lang befreundet.
Dann buchte er eine Fahrkarte und druckte sie aus. Der Frühzug ging um sieben. Gegen Mittag würde er eintreffen.
Die fünfstündige Zugfahrt nutzte Nathan, um die Zeichnung des Buchdeckels von Alice fertigzustellen. Die Handwerker, die damit beauftragt wurden, eine originalgetreue Nachbildung anzufertigen, mussten sich hundertprozentig auf Nathans Entwurf verlassen können. Es war wichtig, dass er jedes Detail genau festhielt. Der Einband von Alice war von schlichter Schönheit. Wenn der Buchbinder mit seiner Arbeit fertig war, würde ein Maler seines Großvaters den Einband entsprechend seiner Vorlage verzieren. Oftmals waren die Hüllen der Bücher deutlich prachtvoller, so dass die Hilfe von Goldschmieden oder Schnitzern notwendig war. Sein Großvater verpflichtete für diese Arbeiten Meister aus aller Welt. Gerade mittelalterliche Einbände verlangten hohe Sorgfalt bei der Ausarbeitung. Früher war es häufig vorgekommen, dass die Vorlagen nicht exakt genug gewesen waren. Dann konnte die eigentliche Aufgabe nicht erfüllt werden und alle Vorarbeit war umsonst gewesen. Nathan war so ein Fehler noch nie unterlaufen. Im Grunde machte ihm das Kopieren der Buchdeckel die größte Freude.
Kurz bevor der Zug sein Ziel erreichte, war Nathan mit seiner Arbeit fertig. Vorsichtig schob er das Blatt in eine Folie und verstaute sie in seiner Tasche.
Am Bahnhof wartete der Chauffeur seines Großvaters auf ihn.
»Harold, schön dich zu sehen«, begrüßte Nathan ihn. »Wie geht es dir?«
»Sehr gut, Nathan. Danke. Wir sollten uns beeilen«, fügte er hinzu. »Dein Großvater war heute früh sehr ungnädig.«
»Ist er das nicht immer?«, antwortete Nathan und setzte sich in den Wagen, während Harold seinen Koffer verstaute. Eine Tätigkeit, die ihn einer Antwort enthob.
Harold brachte ihn zu dem Wohnsitz, den Nathans Vorfahren im 16. Jahrhundert erbaut hatten, und der seitdem ununterbrochen von seiner Familie bewohnt wurde. Weit abgelegen an der Küste Cornwalls war er ein hervorragender Rückzugsort, wo die de Tremaines seit Jahrhunderten ungestört ihre Interessen verfolgen konnten.
Als das Auto vor dem ausladenden Portal zum Stehen kam, wandte sich Harold zu Nathan um. »Dein Großvater
Weitere Kostenlose Bücher