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Woerter durchfluten die Zeit

Woerter durchfluten die Zeit

Titel: Woerter durchfluten die Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marah Woolf
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warf sie einen Blick über seine Schulter. Eine kupferne Haarsträhne löste sich aus ihrem Zopf und strich über seine Wange.
    Erschrocken sah Nathan auf. Seine schwarzen Augen glänzten fiebrig. Lucy schien es, als ob er aus einer fremden Welt zurückkehrte. Es war beinahe, als würde er sie nicht erkennen.
    Sie fuhr zurück. »Entschuldigung«, stammelte sie. »Ich wollte nicht stören. Ich wollte nur sehen, ob alles in Ordnung ist.«
    »Ich mag es nicht, wenn ich während meiner Arbeit gestört werde«, knurrte Nathan. »Ich kann wohl erwarten, in Ruhe gelassen zu werden, oder?«
    »Ja, klar«, antwortete Lucy. »Es ist nur … Sie lesen ja gar nicht?«
    »Steht hier irgendwo, dass ich lesen muss?« Er sah sich demonstrativ um.
    Lucy, die sich darauf besann, dass in dem Lesesaal eigentlich nicht gesprochen werden durfte, flüsterte zurück: »Nein, natürlich nicht. Was machen Sie denn da eigentlich?«
    »Ich glaube nicht, dass Sie das was angeht«, flüsterte Nathan etwas lauter zurück. »Und jetzt lassen Sie mich weiterarbeiten. Viel Zeit habe ich ja nicht. Ich wünsche, nicht noch einmal gestört zu werden.«
    Die Lesesaalaufsicht kam mit leisen Schritten auf die beiden zu. Lucy sah Nathan böse an. »Ich habe mich doch entschuldigt. Man wird ja wohl mal fragen dürfen.« Sie sah auf ihre Uhr. »Noch zwei Stunden«, fauchte sie, wandte sich ab und ging.
    Mit schnellen Schritten rannte sie ins Archiv. So ein Blödmann dachte sie. Was bildete er sich ein? War doch schließlich nicht sein Buch. Sie war dafür verantwortlich. Was, wenn er aus Versehen einen Strich auf den Einband machte? Am Fuß der Treppe begrüßte sie erneut das Wispern der Bücher, das immer mehr anschwoll, als sie durch die Regalreihen stürmte. Lucy ignorierte es und lief in ihr Büro. Die Tür schlug sie hinter sich zu und sperrte damit die Bücher aus. Erst jetzt spürte sie, dass ihr Mal stärker pulsierte. Nicht auch das noch, dachte sie. Nicht noch ein verlorenes Buch. Sie konnte sowieso nichts tun. Sie hatte keine Ahnung, was mit den verschwundenen Büchern geschehen war, nicht einmal, wann es geschehen war. Es konnte einen oder hundert Tage her sein, dass die Texte verloren gegangen waren. Es konnte im Grunde hundert Jahre her sein. Tennyson hatte seine Gedichte in der Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben. Wann die Originalausgabe mit den gesammelten Werken in die Bibliothek gekommen war, ließ sich für Lucy nicht mehr nachvollziehen. Wie also, um Himmels willen, sollte sie herausfinden, wann der Text abhandengekommen war? Andererseits hatte sie die Gedichte noch gelernt. Alle Kinder ihrer Klasse hatten sie gelernt. Damals hatte man noch von der Existenz seiner Bücher gewusst. Weiter kam sie nicht. Egal wie oft sie das Problem in ihrem Kopf hin und her wälzte. Sie war den Büchern keine Hilfe, da konnten sie wispern, wie sie wollten. Sie brachten sie nur um den Verstand.
    Lucy betete, dass sie Alice unversehrt zurückbekommen würde. Unruhe nagte an ihr. Warum bloß? Sie hatte Miss Olive mehrmals geholfen, Bücher in den Lesesaal zu bringen und auszuleihen. Weshalb war sie so nervös? Sie sah auf die Uhr. Viertel nach vier. Verging die Zeit heute denn gar nicht? Lag es daran, dass sie das erste Mal ein Buch allein ausgab? Lag es an Nathan? Etwas stimmte nicht mit ihm, das spürte sie deutlich. Andererseits, Marie fand ihn ganz normal, wenn man von seinem übersteigerten Buchinteresse absah.
    Lucy beschloss, sich abzulenken. Sie zog einen der Karteikästen, die in dem großen Schrank in dem Büro standen, heraus und widmete sich der langweiligen Tätigkeit, die Angaben auf den Karten in das Onlinesystem der Bibliothek einzupflegen. Wütend hämmerte sie auf die Tastatur ihres Computers ein. Immer wieder dieselbe Maske: Titel, Autor, Erscheinungsjahr, Zustand, Aufbewahrungsort, Beschaffungsdatum. Sisyphos ließ grüßen. Lucy stellte sich vor, wie sie in fünfzig Jahren hier immer noch saß, mit schlohweißem langem Haar, und die Bücher in einen dann völlig veralteten Computer tickerte. Bei dem Gedanken musste sie schmunzeln.
    Während sie arbeitete, fiel ihr auf, dass ab und zu zwischen den vielen, in den unterschiedlichsten Handschriften beschriebenen Kärtchen, leere Karten steckten. Ihr Sinn war Lucy nicht klar. Zuerst dachte sie, dass es sich um ein Versehen handeln musste. Sie vermutete, dass der ein oder andere Archivar manchmal zwei Karten gegriffen hatte. Oder jemand hatte eine leere Karte in den Kasten gesteckt, um

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