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Woerter durchfluten die Zeit

Woerter durchfluten die Zeit

Titel: Woerter durchfluten die Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marah Woolf
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eine bestimmte Stelle damit zu markieren und vergessen, die Karte wieder herauszuziehen. Als sie nun einen Titel nach dem anderen in den Computer übertrug, kamen ihr Zweifel an dieser unschuldigen Theorie. Bisher hatte sie sechs oder sieben leere Karten gefunden. Allerdings war sie auch noch nicht weit gekommen. Sie war immer noch bei dem Buchstaben B. Lucy lehnte sich zurück, und starrte auf die Suchmaske ihres Computers, die leicht flimmerte. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, während sich eine Idee in ihrem Kopf manifestierte. Dann sprang sie auf und war mit zwei Schritten aus dem Büro. Mit zitternden Fingern öffnete sie den Schrank und suchte nach dem Kasten mit dem Buchstaben T. Sie zog ihn heraus und trug ihn ins Büro. Langsam blätterte sie die Karten durch. Zwischen John Taylor, dem »Water Poet«, und William Makepeace Thackerays »Jahrmarkt der Eitelkeiten « wurde sie fündig. Dort steckte eine vergilbte Karte mit eingerissenen Rändern. Lucy zog sie heraus und wendete sie hin und her. Sie war leer. Das musste Tennysons Karte sein. Eine andere Erklärung gab es nicht. Vielleicht würde sie nun herausfinden, welche Bücher noch verschwunden waren. Vielleicht würde sie sich erinnern können.
    Das Klingeln des Telefons unterbrach Lucy in ihren Überlegungen. Sie ging in ihr Büro zurück und nahm den Hörer ab.
    »Ja?«
    »Du kannst dein Buch wiederhaben. Mr. de Tremaine ist fertig«, teilte ihr die Lesesaalaufsicht mit.
    »Ich komme«, antwortete Lucy mechanisch, legte auf und ging nach oben.
    Nathan saß an seinem Tisch und sah ihr entgegen. »Alles in Ordnung?«, fragte er, als sie bei ihm ankam.
    »Ja, sicher. Warum?«
    »Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen. Sie sind ganz blass.«
    War ihm seine Unfreundlichkeit abhandengekommen? Unwillig schüttelte Lucy ihren Kopf und griff nach dem Buch. Unerwartet machte sich ihr Mal bemerkbar. Automatisch griff sie danach und rieb es vorsichtig. Es half nicht. Sein Blick folgte jeder ihrer Bewegungen.
    Sie ging um den Tisch herum und zog ihre Handschuhe aus der Hosentasche. Nathan stand auf und bot ihr seinen Platz an. Mit einem Nicken bedankte sie sich, setzte sich und begann das Buch zu inspizieren. Es war genauso perfekt wie zuvor. Ihre Sorge war unbegründet gewesen. Sie atmete tief ein.
    »Beruhigt?«, fragte Nathan und Lucy entging der spöttische Unterton in seiner Stimme nicht.
    »Ja«, erwiderte sie, fest entschlossen, sich nicht provozieren zu lassen. Behutsam schlug sie das Buch in das Papier ein, band das Paket zusammen und stand auf. Nathan ragte vor ihr auf, wich jedoch nicht zurück, um sie durchzulassen.
    Sie roch sein Eau de Toilette. Es war ein angenehmer Duft. Beinahe herbstlich.
    »Ich würde es mir in ein paar Tagen gern noch einmal anschauen«, sagte er.
    Alarmiert sah Lucy ihn an und presste das Buch an sich. Seine Augen glitzerten. Eine Welle des Schmerzes raste durch ihr Handgelenk.
    »Autsch!« Lucy drückte mit der anderen Hand auf das Mal. Das Buch rutschte ihr aus dem Arm. Nathan fing es geistesgegenwärtig auf.
    »Was ist?«, fragte Nathan.
    Ohne nachzudenken, schob Lucy den Ärmel ihres Pullovers hoch. Erschrocken betrachtete sie das Mal. Das kleine Buch pulsierte rot auf ihrer Haut. Blutrot.
    Ängstlich betrachtete Lucy die Stelle, bevor sie sie hastig wieder bedeckte. Dann sah sie zu Nathan. Er war zurückgewichen und sein Gesicht war weiß wie eine Wand.
    »Das ist nicht ansteckend«, versuchte Lucy zu erklären. »Es ist nur ein Mal. Allerdings weiß ich nicht, was mit ihm los ist«, fügte sie hinzu.
    »Ich muss gehen«, sagte Nathan und legte das Buch auf den Tisch zurück. Sein Abgang glich einer Flucht.
    Lucy sah ihm verdutzt hinterher. Dann warf sie wieder einen Blick auf das Mal. Das Pulsieren wurde von Sekunde zu Sekunde schwächer und auch diese gruselige rötliche Färbung verschwand in Windeseile. Sie griff nach dem Buch, verstaute es in seinem Karton und schickte es mit dem Aufzug hinunter. Unten angekommen entnahm sie den Karton dem Aufzug und stellte ihn auf ihrem Schreibtisch ab. Hier konnte das Buch warten, bis Nathan noch einmal kam.
    Was interessierte ihn bloß so an diesem Buch? Ob Professor Wyatt einen Artikel darüber schrieb und ihn mit ausführlichen Recherchen beauftragt hatte? Das wäre immerhin eine Erklärung.
    Lucy packte ihre Sachen zusammen und zog ihre Jacke an. Erschöpft machte sie sich auf den Heimweg.
     

 
    Lesen heißt
    durch fremde Hand träumen.
     
    Fernando

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