Woerter durchfluten die Zeit
locken.
«Wusstest du, dass Queen Anne und zehn ihrer Kinder hier bestattet sind? Das wäre eine große Familie gewesen. Leider gibt es kein Grabdenkmal mehr von ihr«, erklärte er, statt auf ihre Frage zu antworten.
»Insgesamt war sie sogar siebzehn Mal schwanger«, bemerkte Lucy.
»Wirklich?«
Lucy nickte. »Ich habe in der Schule mal ein Referat über sie gehalten. Bis auf eines sind alle Kinder entweder tot geboren oder nicht sehr alt geworden. Und das eine wurde, glaube ich, nur zehn oder elf, bevor es starb.«
»Wie sie das wohl ausgehalten hat?«
»Angeblich hatte sie einen Mann, der sie sehr liebte. Vielleicht half das ein bisschen«, vermutete Lucy.
»Du bist eine Romantikerin«, zog Nathan sie auf. »Ich wette, du glaubst an die ganz große Liebe.«
»Du nicht?«, fragte sie zurück und sah ihn an.
»Klar, doch«, sagte er, blieb stehen und erwiderte Lucys Blick mit einer Intensität, die sie schaudern ließ. »In Büchern«, fügte er dann hinzu, und stupste ihr mit seinem Zeigefinger auf die Nasenspitze. Er lachte leise und ging weiter.
»Blöder Kerl«, flüsterte Lucy ärgerlich und war froh, dass er das Pochen ihres Herzens nicht hören konnte.
»Das habe ich gehört«, rief er gut gelaunt.
»Bitte etwas ruhiger«, bemerkte einer der Aufseher im roten Mantel streng.
»Entschuldigen Sie«, antwortete Nathan höflich und legte Lucy einen Arm um die Schulter.
»Ab jetzt flüstern wir nur noch«, raunte er ihr ins Ohr.
Lucy kicherte.
»Ich will noch zur Poets’ Corner«, erklärte sie, nachdem sie den Rundgang fast beendet hatten.
»Weshalb?« Nathan hielt sie fest.
«Ich mag es, dass hier nicht nur gekrönte Häupter liegen, sondern auch Dichter und Romantiker«, antwortete sie und machte sich los.
Nathan folgte ihr unwillig.
Aufmerksam blickte sie sich um und ließ ihren Blick über die Denkmäler und Grabtafeln schweifen. Sie begrüßte jeden einzelnen Dichter und jede Dichterin persönlich. Dann stutzte sie und trat an eine der Wände heran. Verzweifelt versuchte Lucy, sich an ihre früheren Besuche zu erinnern. Der Letzte war schon etwas her, bestimmt mehrere Monate. Etwas fehlte.
Nathan trat hinter sie. »Was ist los, Lucy?«, fragte er alarmiert.
Lucy überlegte fieberhaft. Nathans besorgte Frage nahm sie kaum wahr. Sie wandte sich um und betrachtete die in den Boden eingelassenen Grabplatten. Es gab keinen Zweifel, die von Tennyson war verschwunden. Sie war sicher, dass er hier begraben lag. Allerdings konnte sie nicht mit Gewissheit sagen, ob sie bei ihren letzten Besuchen noch da gewesen war. Ihr Blick wanderte ganz automatisch zu der Gedenkplatte von Lewis Caroll. Er war zwar nicht in der Kirche begraben, doch trotzdem konnte hier seiner gedacht werden. Diese Platte war noch da. Lucy atmete hörbar auf.
»Würdest du mir sagen, was du hast?«, fragte Nathan ärgerlich, und zog sie zu sich herum.
Lucy sah in seine schwarzen Augen. Auf seiner Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet. Lag da Sorge oder Zorn in seinem Blick? Weshalb reagierte er so aufgebracht? Sie nahm seine Hand von ihrem Arm.
»Es ist nichts«, sagte sie und funkelte ihn an. »Alles in Ordnung.«
Nathan glaubte ihr nicht, das konnte sie deutlich sehen.
»Lass uns was essen, die vielen Toten machen mich ganz hungrig.« Nathan schob Lucy aus der Kirche nach draußen, wo nun die Septembersonne alles in goldenes Licht tauchte und sich in den Pfützen auf der Straße spiegelte.
»Auf was hast du Appetit?«, fragte er Lucy.
»Mir egal«, antwortete sie immer noch abweisend. Nathan ahnte, was gerade schiefgelaufen war, und ärgerte sich über sich selbst, dass er mit Lucy in die Kirche gegangen war.
»Asiatisch?«, fragte er nach und erntete zur Antwort ein stummes Nicken.
»Es gibt hier um die Ecke ein kleines thailändisches Restaurant. Die Küche ist deutlich besser als in Soho. Wir könnten es dort versuchen.«
Als Lucy immer noch nicht antwortete, legte er wieder seinen Arm um ihre Schulter und zog sie einfach mit sich.
Im Restaurant angekommen platzierte die asiatische Bedienung sie an einem Tisch für zwei direkt am Fenster.
Nathan nahm Lucy ihre Jacke ab und bestellte eine Karaffe mit Wasser. Lucy machte nicht den Eindruck, als wäre sie momentan zu einer Entscheidung fähig.
»Rede mit mir, Lucy«, drang er in sie, als sie saßen. »Was ist da gerade passiert? Hat es mit deinem Mal zu tun? Tut es weh?«
»Nein. Damit hat es nichts zu tun. Es ist alles in Ordnung. Mir ist nur
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