Woerter durchfluten die Zeit
gerade etwas eingefallen."
»Verrätst du mir, was es ist?«, drängte Nathan weiter.
Lucy sah ihn an, als versuche sie zu ergründen, ob sie ihm trauen konnte. Nathan hielt ihrem Blick stand.
Sie sah sich um und beugte sich näher zu ihm über den kleinen Tisch.
»Ich war schon öfter in Westminster Abbey. Aber heute ist mir etwas aufgefallen.« Sie machte eine Pause, da die Bedienung mit der Wasserkaraffe an den Tisch kam. Nathan bestellte, ohne einen Blick in die Karte zu werfen, Essen für sie beide.
»Was?«, fragte Nathan mit belegter Stimme. Es hätte ihm klar sein müssen, dass es ihr auffallen würde.
»Ich habe dir nicht die ganze Wahrheit gesagt«, erklärte sie dann. »Es ist aber auch zu verrückt.« Sie schüttelte den Kopf. »Das wirst du mir nie glauben«, sagte sie dann in einem jammernden Tonfall.
»Lucy.« Nathan griff nach ihren Händen, die sie einfach nicht stillhalten konnte. »Erzähl es mir einfach.« Aufmunternd sah er sie an.
»Also gut. Ich habe dir von den Büchern erzählt, die verschwunden sind.«
Nathan nickte.
»Sie sind nicht einfach nur verschwunden. Sie sind auch vergessen.«
Nathan erschrak und umfasste Lucys Hände unwillkürlich fester. Wie hatte sie das herausgefunden? Wusste sie mehr, als er bisher vermutet hatte?
»Was meinst du damit?«, fragte er lauernd.
»Erinnerst du dich, dass ich dir erzählt habe, dass das Buch von Tennyson verschwunden ist?
Zögernd nickte Nathan.
»Und kennst du Tennyson? Kannst du ein Gedicht von ihm? Komm schon, du hast sicher eins gelernt.«
Darauf wollte sie also hinaus. Sie wollte ihn testen, doch er würde sich nicht aufs Glatteis führen lassen.
»Tennyson? Nie gehört. Wer soll das sein?«
Lucy sah ihn triumphierend an. »Siehst du, du kannst dich nicht erinnern. Niemand kann das. Ich habe es recherchiert. Nun stell dir meine Überraschung vor, als ich heute sah, dass auch das Grab Tennysons verschwunden ist. Ich bin ganz sicher, dass er in Westminster Abbey begraben war. Eigentlich hätte es gar keine Überraschung für mich sein dürfen«, fügte sie kläglich hinzu.
»Wenn das stimmt, was du mir da erzählst, weshalb kannst du dich an ihn erinnern?«, fragte Nathan, obwohl er die Antwort kannte.
Sie entzog ihm ihre Hände und antwortete resigniert: »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß auch nur, dass es ihn gab. An seine Werke fehlt mir die Erinnerung.«
Das Essen kam, aber Lucy stocherte nur lustlos auf ihrem Teller herum.
»Vielleicht hat es doch mit dem Mal zu tun«, sagte Nathan vorsichtig.
»Wahrscheinlich«, antwortete Lucy langsam. »Früher dachte ich immer, es wäre eine Tätowierung und meine Mutter wäre eine von diesen schrägen Hippiekünstlerinnen gewesen. Wer sonst sollte ein kleines Kind tätowieren? Ich war nicht einmal ein Jahr alt, als ich ins Heim kam. Wahrscheinlich wollte sie frei sein und ein Kind störte in diesem Leben.«
»Das erklärt nicht, weshalb es sich verändert«, wies Nathan auf das Offensichtliche hin.
»Da hast du recht. Es kann keine Tätowierung sein. Es ist etwas anderes«, stimmte Lucy ihm zu. »Nur was? Und was bezweckt es damit, dass es mal brennt, mal pulsiert oder sich verfärbt?«
Nathan antwortete nicht und widmete sich stattdessen seinem Essen.
Lucy war in Gedanken wieder in der Poets’ Corner und ging die Reihe der Dichter durch, von denen sie wusste, dass sie dort begraben waren.
Mindestens noch einer fehlte. Geoffrey Chaucer – sie war sicher, dass er dort ebenfalls ein Grabmal gehabt hatte. Schließlich war er der erste Dichter gewesen, der in der Abtei beerdigt worden war. Allerdings war die Platte von Lewis Caroll noch da. Das machte Nathan über jeden Vorwurf erhaben. Sie fragte sich, wie sie ihn je hatte verdächtigen können.
»Du hältst mich nicht für überspannt oder verrückt?«, fragte sie.
»Keine Spur«, antwortete Nathan und lächelte sie liebevoll an. Ihr Herz flog ihm zu. Obwohl sie sich erst so kurze Zeit kannten, fühlte sie sich in seiner Gegenwart fast so geborgen wie bei Colin. Er würde ihr helfen. Sie musste ihm vertrauen.
»Da fehlt noch ein Grabmal. Das von Chaucer«, offenbarte sie ihm. »Ich bin ganz sicher.«
Nathan blickte sie verständnislos an.
»Sei mir nicht böse«, sagte sie dann. »Ich muss in die Bibliothek fahren und schauen, ob ich ein Werk von ihm finde. Große Hoffnung habe ich zwar nicht, aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.«
»Hat das nicht bis Montag Zeit?«, fragte er. Lucy schüttelte den
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