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Woerter durchfluten die Zeit

Woerter durchfluten die Zeit

Titel: Woerter durchfluten die Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marah Woolf
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das?«
    »Er ist verunglückt. Er ist mit dem Auto gegen einen Baum geprallt. Der Wagen ist ausgebrannt, deshalb konnten sie ihn erst nicht identifizieren. Frank hat mir gleich Bescheid gegeben, als er es erfahren hat, damit ich nicht länger warten muss. Ich habe doch noch sein Abendbrot gerichtet und gewartet, dass er nach Hause kommt. Ich hatte schon den ganzen Tag so ein ungutes Gefühl. So lange war er sonst nie fort.« Die Worte gingen wieder in Weinen über.
    »Ich komme schnell hinüber«, sagte Madame Moulin mit Bestimmtheit in der Stimme. »Ich bringe Sie nach Hause.« Greta wohnte nicht im Pfarrhaus und in diesem Zustand wollte Madame Moulin sie auch nicht allein nach Hause gehen lassen.
    »Das ist nicht nötig. Frank ist noch hier. Er wird mich begleiten. Ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen. Sie und der Pfarrer waren doch so gut befreundet.«
    »Ja, ja. Das waren wir«, erwiderte Madame Moulin und ließ den Hörer auf die Gabel fallen.
     
    Ralph und sie hatten sich in ihrer Jugend sehr nahegestanden. Viele Leute im Dorf hatten erwartet, dass sie heiraten würden. Aber irgendwie war es dazu nie gekommen. Ralph hatte sich in seine Studien gestürzt und nahm sein Amt deutlich ernster als seine Vorgänger. Sie erbte das Kinderheim von ihrer Mutter, die viel zu früh gestorben war. Ralph und sie sahen sich zwar noch oft, aber die Vertrautheit der Jugend war irgendwann verflogen. Trotzdem hatte er Lucy in jener Nacht zu ihr gebracht. Und jetzt war er tot. Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie daran dachte, wie jung sie beide einmal gewesen waren. Sie hatte nie bereut, sich für die Kinder entschieden zu haben. Sie war sicher, dass auch Ralph mit seinem Leben als Vikar glücklich gewesen war. Trotzdem blieb nun, da es zu spät war, ein Gefühl in ihr zurück, etwas Wichtiges im Leben verpasst zu haben.
    Mit schleppenden Schritten ging sie die Stufen zu ihren Zimmern nach oben. Morgen würde sie ins Pfarrhaus gehen und Greta bei den Vorbereitungen für die Beerdigung helfen. Das war sie Ralph schuldig.
    In ihrem Zimmer angekommen, nahm sie den Brief, den Lucy ihr geschickt hatte, aus einer Kommode. Sie hatte ihn zwischen ihren Sachen verborgen. Im Büro hatte sie ihn, nach dem Einbruch bei Ralph, nicht lassen wollen. Sie faltete den Brief auseinander und setzte sich auf ihr Bett. Wort für Wort las sie ihn noch einmal, obwohl sie ihn mittlerweile fast auswendig kannte.
     
    Liebe Madame Moulin,
     
    ich hoffe, Ihnen und den Kindern geht es gut. Ich habe lange nicht geschrieben, aber die Arbeit in der Bibliothek nimmt mich sehr in Anspruch. Mr. Barnes, der neue Direktor, hat mich in das Archiv versetzt. Es gefällt mir sehr gut dort, aber es ist mir etwas sehr Eigenartiges passiert. Ich weiß nicht, mit wem ich darüber sprechen soll. Sie haben meinen Geschichten immer Glauben geschenkt und deshalb möchte ich Sie um Rat bitten.
    Wo soll ich beginnen? Vielleicht erinnern Sie sich an unseren ersten Besuch in der Dorfbibliothek. Das Zeichen, das ich an meinem Handgelenk trage und von dem wir dachten, dass es ein Tattoo wäre, hat damals zum ersten Mal pulsiert. Nun ist es wieder geschehen und ich frage mich, ob es wirklich ein Tattoo ist. Würde eine Tätowierung so ein Eigenleben entwickeln? Es pulsiert diesmal nicht nur schwach, sondern es brennt und verfärbt sich. Es macht mir Angst.
    Ich weiß, dass das Folgende sehr merkwürdig klingt, doch ich bitte Sie, mir zu glauben. Die Bücher – sie sprechen mit mir. Sie haben mich mit ihrem Wispern im Archiv zu einem Buch gelockt, in dem eigentlich Gedichte von Tennyson stehen sollten. Sie werden meine Überraschung verstehen, als ich feststellte, dass das Buch vollkommen leer war. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen können, was ich meine. Aber das Buch, das ich in den Händen hielt, war voller Trauer. Trauer um die verlorenen Worte. Ich habe versucht, mich an »Lady of Shalott« zu erinnern. Ich wollte die Worte aufschreiben, doch sie waren fort. Niemand, egal wen ich frage, scheint sich an Tennyson zu erinnern. Das Buch ist vergessen.
    Die anderen Bücher wollen, dass ich ihnen helfe (ich bin wirklich nicht verrückt geworden, machen Sie sich keine Sorgen). Sie haben mir noch ein anderes Buch gezeigt, das vor meinen Augen zu Staub zerfallen ist. Ich habe keine Ahnung, von wem es ist.
    Das ist alles so unfassbar, dass ich verstehen würde, wenn Sie mir nicht glauben.
    Aber Sie sind meine letzte Hoffnung. So viele Abende haben Sie mir Tennysons Gedichte

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