Woerter durchfluten die Zeit
musste sie unbedingt sprechen. Leider war bei Lucys Handy lediglich die Mailbox angesprungen und Madame Moulin hatte nicht gewagt, ihr eine Nachricht zu hinterlassen. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass Lucy irgendwann den verpassten Anruf sah und sich bei ihr meldete.
Wieder nahm sie den Brief, den Ralph ihr geschickt hatte, zur Hand und betrachtete ihn nachdenklich. Wenn Lucy sich bis heute Abend nicht bei ihr meldete, würde sie morgen nach London fahren, beschloss sie.
Dann verstaute sie den Brief in Ermangelung eines Safes in der hintersten Ecke ihres Schreibtisches. Die Kette mit dem Medaillon legte sie sich um den Hals und verbarg es unter ihrem Pullover. Nachher würde sie den Brief mit in ihr Zimmer nehmen.
Sie begann zu überlegen, wie sie mit den Kindern die Kirche schmücken wollte. Lilien hatte Ralph nie gemocht. Die Frühlingsblumen, die er geliebt hatte, waren um diese Jahreszeit allerdings nicht zu bekommen. Sie würde mit dem Blumenhändler sprechen müssen. Aber zuerst sollte sie den Kindern sagen, was passiert war.
Bevor sie das Büro verließ, kontrollierte sie die Fenster und schloss, ganz entgegen ihrer Art, ihre Bürotür zweimal ab. Dann ging sie in den Speisesaal, wo die Erzieher und Kinder gemeinsam das Essen einnahmen.
Mit ernstem Gesicht sah Madame Moulin von einem Kind zum anderen und wartete, bis Ruhe einkehrte. Dann begann sie zu erzählen, was passiert war.
Erst jetzt, als sie es aussprach, wurde ihr die Tragweite dessen, was geschehen war, voll bewusst. Ralph war tot. Sie schwankte leicht. Martha, die neben ihr stand, blieb dies nicht verborgen. Energisch zog die Frau, die mittlerweile schon fünfunddreißig Jahre hier arbeitete, einen Stuhl zurück und drängte sie, sich zu setzen. Die Kindergesichter vor ihr sahen sie schweigend an. Zwei der kleinen Mädchen schluchzten. Viele der Kinder waren schon viel zu früh mit dem Tod konfrontiert worden. Obwohl sie und ihre Mitarbeiter versuchten, ihnen Mutter und Vater zu ersetzen, gab sie sich nicht der Illusion hin, dass ihnen das immer gelang.
Martha stellte eine Tasse heiße Schokolade vor ihr auf den Tisch. Madame Moulin lächelte über diese liebevolle Geste. Martha tröstete jeden, der es ihrer Meinung nach nötig hatte, mit ihrem Spezialkakao. Es war nicht irgendeine heiße Schokolade. Sie kochte sie nach einem Geheimrezept ihrer Großmutter, der es wiederum von ihrer Großmutter überliefert worden war. Das jedenfalls erzählte Martha den Kindern, die ihren Kummer meistens schnell vergaßen, wenn sie in der Küche saßen und den Geschichten über ihre berühmteste Vorfahrin lauschten. Martha berichtete in den blühendsten Farben davon, wie diese sich auf das Schiff der spanischen Conquistadores geschlichen hatte, um mit ihnen nach Südamerika zu reisen. Dort verliebte sie sich angeblich unsterblich in einen Aztekenprinzen, der ihr zum Zeichen seiner Liebe Kakaobohnen und das Rezept zur Herstellung des geheimnisvollen Getränkes geschenkt hatte.
Seither wurde das Rezept von Tochter zu Tochter weitergegeben. Etliche Details an der Geschichte waren unklar, doch niemand im Haus zweifelte jemals grundsätzlich den Wahrheitsgehalt an. Für die Mädchen schmückte Martha die Liebesgeschichte aus, für die Jungen schilderte sie die erbitterten Kämpfe zwischen Azteken und Spaniern.
Nur zu gern hätte Madame Moulin sich jetzt mit Martha in deren Reich zurückgezogen, doch erst musste sie sich um die verstörten Kinder kümmern.
Erst eine gute Stunde später konnte sie endlich in ihr Büro zurückkehren. Umständlich balancierte sie ihre Tasse mit dem mittlerweile kalten Kakao in der einen Hand, während sie mit der anderen nach dem Schlüssel in ihrer Jackentasche suchte. Da hörte sie hinter der Tür ein Geräusch. Hastig schloss sie auf und betrat ihr Büro. Die Glastür, die zum Garten führte, stand sperrangelweit offen. Bücher waren aus dem Regal gerissen worden und lagen achtlos verstreut auf dem Boden. Die Tasse mit dem restlichen Kakao entglitt ihrer Hand und zersprang scheppernd auf dem Schachbrettmuster des Fußbodens. Madame Moulin stürmte zu ihrem Schreibtisch und blieb fassungslos stehen. Die Schubfächer waren herausgerissen und ihr Inhalt völlig zerwühlt. Die unteren Türen standen offen und auf dem Fußboden lagen in einem großen Durcheinander Dokumente, Stifte und Ordner. Madame Moulin kniete nieder und durchwühlte die Unterlagen. So sehr sie hoffte, den Brief wiederzufinden, wusste sie doch, dass er mit
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