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Woerter durchfluten die Zeit

Woerter durchfluten die Zeit

Titel: Woerter durchfluten die Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marah Woolf
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großer Wahrscheinlichkeit verschwunden war. Langsam stand sie auf und wandte sich der Terrassentür zu. Kalte Herbstluft wehte die Vorhänge zur Seite, als sie an die Tür trat, um sie zu schließen. Selbst in dem fahlen Licht, das draußen herrschte, war das Ungeheuer, das mitten auf dem Rasen stand, nicht zu übersehen. Eine riesige schwarze Dogge starrte sie an. Eine lange, rote Zunge hing aus ihrem Maul und sie hechelte so laut, dass Madame Moulin es trotz der Entfernung hören konnte. Dieses Monster musste einen Herrn haben, der für das hier verantwortlich war, schoss es ihr durch den Kopf. Eilig schloss sie die Tür. Wenn der Hund noch hier war, war sein Herr sicher nicht weit. Wusste er, dass er nicht alles von Ralphs Hinterlassenschaft gefunden hatte? Sie griff nach dem Medaillon, das um ihren Hals hing. Darauf würde sie besser achtgeben. Lucy musste es bekommen. Es war das Einzige, was ihr von ihren Eltern geblieben war.
     
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    Nathan und Lucy saßen am Küchentisch. Jeder hielt eine dampfende Tasse Tee in den Händen. Sie hatten auf dem ganzen Weg geschwiegen. Nathan war es, der schließlich den Anfang machte.
    »Eins verstehe ich nicht. Weshalb weißt du von den Büchern, wenn alles verschwindet, was an die Dichter erinnert? Das geht nicht mit rechten Dingen zu, Lucy. Was verschweigst du mir? Miss Olive kann nichts damit zu tun haben.«
    Lucy nickte.
    »Es ist unheimlich, findest du nicht?« Hilfe suchend sah sie ihn an.
    »Es muss etwas mit dir zu tun haben«, sagte Nathan. »Du musst mir mehr von dir erzählen. Woher du kommst, was es mit dem Mal auf sich hat. Du darfst mir nichts mehr verschweigen«, sagte er vorwurfsvoll.
    »Ich habe dir nur nicht alles erzählt, weil es völlig verrückt ist. Ich meine, wer würde so einer Geschichte schon Glauben schenken?«, brachte sie zu ihrer Entschuldigung vor.
    Nathan griff nach Lucys Händen und hielt sie fest.
    »Ich glaube dir, Lucy.« Er versenkte seine Augen in ihren. In ihrem Magen nistete sich eine seltsame Schwere ein. »Du kannst mir vertrauen. Du darfst keine Geheimnisse vor mir haben. Sonst kann ich dir nicht helfen.«
    »Du hast ja recht«, sagte sie. »Aber ich weiß doch auch nichts. Die Bücher sagen laufend Erinnere dich zu mir. Aber woran soll ich mich denn erinnern?«
    Nathan hatte ihre Hände losgelassen und starrte sie an. »Die Bücher reden mit dir?«, fragte er tonlos. Verunsichert sah Lucy auf. »Hatte ich das noch nicht erwähnt?«, fragte sie kläglich. Nathan schüttelte den Kopf.
    »Sie tun es schon immer, irgendwie.«
    Das kann nicht sein, dachte er. Das war selbst für eine Hüterin unmöglich. So lange hatte der Bund versucht, mit den Büchern zu kommunizieren. Jahrhundertelang hatten seine Vorfahren danach gestrebt, dieses Geheimnis zu ergründen, und jetzt kam dieses Mädchen daher und erzählte ihm, dass die Bücher mit ihr sprachen. Einfach so. Wenn sein Großvater davon erfuhr …
    Nathan fuhr sich mit dem Finger unter den Kragen seines T-Shirts. Das Atmen fiel ihm schwer. Was sollte er jetzt tun? Am liebsten wäre er aufgesprungen. Er musste seinem Großvater diese Neuigkeit so schnell wie möglich mitteilen. Er musste es erfahren.
    Doch wenn er jetzt ging, würde Lucy womöglich misstrauisch werden.
    Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und nur Sekunden später standen Colin und Jules im Raum.
    »Was macht ihr denn hier?«, fragte Colin erstaunt. »Schon genug vom Stadtbummel?« Er musterte Lucy besorgt.
    »Eindeutig zu viele Touristen«, antwortete sie ausweichend. »Wir gehen ein anderes Mal. Immerhin haben wir Westminster Abbey geschafft.«
    »Sag bloß, sie hat dich zum Club der toten Dichter geschleppt?«, fragte Jules Nathan. Dieser nickte.
    »Ein wirklich romantischer Ort für eine erste Verabredung«, fügte Jules hinzu und goss sich eine Tasse Tee ein. Colin setzte sich zu den beiden an den Tisch und griff nach Lucys Händen. »Alles ok?«, fragte er und ignorierte Nathans Blicke.
    Lucy nickte, sah ihm aber nicht in die Augen.
    Das Telefon klingelte.
    Jules ging in den Flur und nahm ab.
    »Madame Moulin«, begrüßte sie die Anruferin. »Ja. Mir geht es gut. Danke. Lucy ist da. Ich geb’ Sie Ihnen. Auf Wiederhören.«
    Jules kam in die Küche und hielt Lucy den Hörer hin. »Deine Ersatzmom«, flüsterte sie und verschwand aus dem Raum, nicht ohne Colin hinter sich herzuziehen, der leise protestierte.
    Nathan war froh, wieder mit Lucy allein zu sein.
    »Madame Moulin?« Lucy klang verwundert.

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