Woerter durchfluten die Zeit
muss mit Nathan ins Archiv.«
Marie zog missbilligend ihre Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass das verboten ist. Wenn es rauskommt, kriegen wir beide mächtigen Ärger.«
»Es wird nicht rauskommen, versprochen. Wir sind vorsichtig. Aber es ist dringend, und wenn du dich nicht gleich entscheidest, ist Miss Stewart zurück und dann ist es zu spät.«
Noch einmal glitt Maries Blick von Lucy zu Nathan, der so dicht hinter ihr stand, als wolle er sie vor etwas beschützen. »Na gut, in Gottes Namen. Aber veranstaltet nichts Unanständiges da unten«, sagte sie und ließ die beiden durch die Schranke.
»Auf keinen Fall.« Dabei zwinkerte Nathan ihr so zweideutig zu, dass Marie lachen musste.
»Ich rufe dich morgen an und dann musst du mir verraten, was ihr da unten getrieben habt«, drohte sie.
Doch die Tür zum Archiv war längst zugefallen.
Wenn Nathan von dem Archiv beeindruckt war, dann ließ er es sich nicht anmerken. Behutsam folgte er Lucy die steilen Stufen nach unten und zu ihrem Büro.
»Was machen wir jetzt?«, fragte er dann und Lucy konnte sich bei dem finsteren Gesicht, das er zog, des Eindrucks nicht erwehren, dass er sich unwohl fühlte.
Ob er Angst hatte? Bei dem Gedanken musste sie sich ein Grinsen verkneifen.
»Was ist?«, fragte er leise und zog seine schwarzen Augenbrauen noch enger zusammen.
»Kann es sein, dass du dich fürchtest? Du guckst so komisch.«
»Fürchten?« Er trat einen Schritt näher an Lucy heran. Sein weißes Hemd leuchtete in dem schummrigen Licht unnatürlich hell. Lucy schluckte und versuchte nach hinten auszuweichen. Leider war da nur die raue Steinwand.
Nathan stützte sich mit den Händen zu beiden Seiten ihres Kopfes ab und kam mit seinem Gesicht noch näher.
»Hier gibt es nur einen zu fürchten und der bin ich«, schnurrte er dann beinahe. Seine Lippen kitzelten ihr Ohr und Lucy wurde gleichzeitig heiß und kalt.
»Da bist du bei mir an der falschen Adresse«, erwiderte sie und tauchte unter seinen Armen hindurch.
»Da bin ich nicht so sicher.«
Lucy schnaubte angesichts seines arroganten Tonfalls, aber sie musste zugeben, dass er der Wahrheit gefährlich nahekam.
»Wir sollten uns an die Arbeit machen«, wechselte Lucy das Thema, das ihr viel zu intim zu werden drohte.
»Was soll ich tun?«, fragte Nathan.
Lucy sah sich um. Etwas war anders als sonst, etwas, das ihr jetzt erst auffiel. Die Bücher schwiegen. Sonst empfingen sie sie immer mit einem aufgeregten Wispern. Sie sah auf ihr Mal. Auch das war still. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Ob es an Nathan lag? Schließlich war er den Büchern fremd.
Trotzdem verwirrte sie die Ruhe.
»Ist alles in Ordnung?«, unterbrach er ihre Gedanken.
»Ja, ja«, antwortete sie zerstreut. »Wir sollten versuchen, herauszufinden, ob wir noch etwas von Chaucer entdecken«, sagte sie.
»Weißt du, wonach du suchen musst?«, fragte sie Nathan und sah ihn abwartend an.
Gleichmütig schüttelte er den Kopf. »Ich hab nie von ihm gehört«, sagte er dann.
»Er hat die Canterbury Tales verfasst, und zwar im 14. Jahrhundert. Wenn hier keine Exemplare davon lagern, fresse ich einen Besen.«
»Ich nehme dich beim Wort«, sagte Nathan und seine Mundwinkel zuckten.
»Lass uns in der Kartei nachschauen. Die ist alphabetisch sortiert. Wenn wir unter Ch nichts finden, dann weiß ich ehrlich gesagt auch nicht, was wir tun sollen.«
Lucy blätterte durch den Karteikasten. Viele Karten gab es nicht unter Ch. Da sie allerdings wusste, dass es bei den Karten mit der Ordnung nicht allzu weit her war, nahm sie eine nach der anderen heraus. Sie studierte den Namen, der darauf stand, und reichte sie Nathan, der sie nochmals aufmerksam begutachtete. Er murmelte die Namen leise vor sich hin. »Chambers, Chamier, Chatterton, Chapmann …«
Als er nach der Nächsten greifen wollte, musste er feststellen, dass Lucy innegehalten hatte. Er sah auf die Karte in ihrer Hand. Auf den ersten Blick wirkte sie leer.
»Etwas gefunden?«, fragte er.
Lucy reichte ihm das Kärtchen.
»Sie ist leer«, stellte er fest.
»Sieh genauer hin«, forderte sie ihn auf.
Nathan hielt die Karte unter das Licht der Schreibtischlampe. Tatsächlich waren noch ganz zarte Buchstaben darauf zu sehen.
»Sie verblassen mit der Zeit. Ich schätze, in einigen Wochen ist die Schrift völlig verschwunden, wie bei Tennyson. Seine Karte war vollständig leer. Erklären kann ich das leider nicht.«
»Chaucer, Geoffrey«,
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