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Woerter durchfluten die Zeit

Woerter durchfluten die Zeit

Titel: Woerter durchfluten die Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marah Woolf
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nicht lange und sie hatten den gesuchten Karton gefunden.
    Nathan nahm ihn aus dem Regal und stelle ihn auf den Boden. Beide kauerten sich davor, und während Lucy die Taschenlampe hielt, hob Nathan den Deckel an.
    Ein Gedanke durchzuckte Lucy und sie legte eine Hand auf seine, um zu verhindern, dass er den Karton öffnete.
    »Warte kurz«, sagte sie. »Ich muss nachdenken.«
    Erwartungsvoll sah Nathan sie an.
    »In dem ersten Karton, den ich gefunden habe, war das Buch von Tennyson. Beziehungsweise das, was davon übrig war. Sein Name stand noch darauf. Das Buch begann allerdings schon zu zerfallen. Die Registerkarte war  komplett leer und niemand kann sich mehr an Tennyson erinnern. Das zweite Buch war schon völlig zerfallen. Ich glaube nicht, dass wir jemals herausfinden können, welches es war. Hier konnten wir wenigstens noch ein bisschen auf der Registerkarte erkennen. Ich glaube, dass das Buch noch nicht sehr lange verschwunden ist. Kannst du mir folgen?« Erwartungsvoll sah Lucy Nathan an.
    »Das war nicht besonders schwer«, murrte er. »Kann ich den Karton jetzt öffnen?«
    Lucy nickte und Nathan hob den Deckel.
    Er nahm das Buch heraus, dessen Einband auf den ersten Blick unversehrt aussah. Es wirkte schmucklos, fand Lucy und nahm es Nathan aus der Hand. Der Einband war in der für das 17. Jahrhundert üblichen Hefttechnik mithilfe von Hanfschnüren gebunden. Eine Schlaufe aus Leder hielt das Buch außerdem zusammen. Umsichtig löste Lucy diesen Verschluss und schlug es auf.
    Obwohl sie bis zu diesem Moment noch gehofft hatte, dass etwas von dem Werk zurückgeblieben war, war das, was sie sah, keine Überraschung. Trotzdem erschrak sie über den pulsierenden Schmerz, der unvermittelt durch ihren Arm raste. Genauso unvermittelt kamen die Tränen. Ihr ganzer Körper wurde vom Schmerz des Buches ergriffen. Sie begann zu zittern.
    Nathan nahm das Buch und legte es zurück. Dann zog er sie von dem eiskalten Boden hoch. Sie schlang ihre Arme um seine Taille. Er hielt sie fest, bis sie sich beruhigt hatte. Immer wieder strich er über ihr Haar. Er sagte kein Wort, hielt sie nur. Sie spürte sein Herz an ihrer Brust schlagen. Ruhig und gleichmäßig, und je stärker sie sich auf diesen Rhythmus konzentrierte, umso ruhiger wurde sie selbst.
    »Geht’s wieder?«, hörte sie Nathans Stimme irgendwann an ihrem Ohr. Sie klang rau.
    Wenn sie ja sagte, würde er sie loslassen. Im Moment war das das Letzte, was sie wollte. Trotzdem nickte sie, das Gesicht weiter an seiner Brust verborgen.
    »Ich lasse dich jetzt los«, erklärte er Minuten später.
    Er schob Lucy von sich und strich ihr das Haar hinter die Ohren. Dann hob er ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Sie musste schrecklich aussehen, so verheult.
    »Wir werden hier verschwinden und in Ruhe darüber sprechen, ok?«, schlug er ihr sanft vor.
    Lucy nickte und ließ zu, dass er den Karton wieder an den richtigen Platz stellte. Er löschte das Licht der Taschenlampe und nahm ihre Hand.
    An der Tür blieb er zögernd stehen. »So gern ich es tun würde, aber ich befürchte, wenn du mir die Führung überlässt, werden wir uns rettungslos verlaufen.«
    Seine Worte entlockten ihr ein Lächeln. Ohne seine Hand loszulassen, zog sie ihn hinter sich her durch die Gänge.
    Lucy öffnete die Tür, die zum offiziellen Teil der Bibliothek führte, einen Spaltbreit und sah hinaus. Nathan stand direkt hinter ihr und die Wärme seines Körpers fühlte sich nach der Kälte, die im Keller geherrscht hatte, gut an. Es dauerte einen Moment, bis niemand mehr auf dem Flur zu sehen war.
    »Ich finde, wir könnten es jetzt versuchen«, flüsterte Nathan. Seufzend öffnete Lucy die Tür und ging hinaus. Miss Stewart war nicht an ihrem Platz, sodass sie die Bibliothek ungesehen verlassen konnten.
     

 
    Es kommt darauf an,
    einem Buch im richtigen Augenblick
    zu begegnen.
     
    Hans Derendinger
     
11. Kapitel
     
    »London Library«, meldete sich die Stimme einer Frau, nachdem Madame Moulin die Nummer gewählt hatte.
    »Ich würde gern Lucy Guardian sprechen. Ist sie heute im Haus?«, fragte sie und versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
    »Es tut mir leid«, antwortete die Frau. »Miss Guardian ist samstags nie hier. Soll ich ihr einen Zettel hinlegen, dass sie Montag zurückruft?«
    »Nein, vielen Dank, das ist nicht notwendig. Ich versuche, sie auf anderem Wege zu erreichen.«
    »Wie Sie möchten«, sagte die Frau und legte auf.
    Wo mochte Lucy nur sein? Sie

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