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Woerter durchfluten die Zeit

Woerter durchfluten die Zeit

Titel: Woerter durchfluten die Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marah Woolf
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blickte Lucy direkt an – aus Augen, die den ihren zum Verwechseln ähnlich waren. Es war unmöglich. Aber dieses Kind, das der Kleidung nach zu urteilen vor langer Zeit gelebt hatte, sprach zu ihr.
    »Das Wort, das Wissen und die Weisheit der Bücher dürfen nicht länger verborgen werden. An Worten sollen die Seelen der Menschen emporwachsen, Worte sollen die Waffen der Zukunft sein. Nur so wird die Welt sich ändern können.«
    Die Frau verschloss dem Kind mit ihrer Hand den Mund.
    »Schweig«, zischte sie.
    Die Worte brannten sich in Lucys Kopf und in ihre Seele ein. Sie nickte dem Kind zu und ein Lächeln breitete sich in dessen Gesicht aus.
    »Du weißt nicht, wovon du sprichst«, hörte Lucy die Stimme der Mutter, bevor sich das Licht in das Medaillon und in ihr Mal zurückzog. Lucy sackte auf den kalten Boden des Archivs zusammen. Die Bücher um sie herum schwiegen.
    »Dieses Mädchen war eine meiner Vorfahrinnen, oder?«
    Sie kannte die Antwort längst.
    »Ja«, murmelten die Bücher. »Sie war die erste in einer langen Reihe von Hüterinnen. »
    Das Telefon schrillte durch den unterirdischen Raum. Lucy zuckte zusammen. Dann stand sie auf und hastete in ihr Büro.
    »Ja?«, meldete sie sich atemlos.
    »Nathan ist hier. Er würde gern dich und Oscar Wilde sehen. Dich zuerst schätze ich.« Maries Lachen schallte durch den Hörer, bevor sie auflegte.
    Nathan war endlich da. Endlich. Lucys Herz flatterte vor Aufregung, während sie hektisch nach ihrem Lipgloss suchte. Die eben gesehenen Bilder wirbelten noch durch ihren Kopf. Was war das gewesen? Welche Zeit? Was waren das für Menschen gewesen, die dort verbrannt wurden? Wer war das kleine Mädchen, das über die Grenzen der Zeit hinweg mit ihr gesprochen hatte?
    Sie würde Nathan erzählen, was sie erfahren hatte, von Madame Moulin und von dem Medaillon. Philippa Irgendwas  – sie würde den Namen googeln. Vielleicht fand sie etwas über das Mädchen heraus. Lucy griff nach dem Karton, in den sie das wiedergefundene Exemplar des Buches »Das Bildnis des Dorian Gray« verpackt hatte, und schickte es mit dem Aufzug nach oben. Dann rannte sie zur Treppe und lief diese, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, hinauf. Nathan wartete am Infoschalter auf sie. Sie hatten sich nur drei Tage nicht gesehen, doch Lucy schien er noch anziehender als zuvor. Er war ganz in Schwarz gekleidet und es stand ihm, fand sie. Er lächelte ihr entgegen.
    »Hey du«, flüsterte Nathan ihr ins Ohr. Dann legte er einen Arm um sie und zog sie an sich. Marie bekam vor Verwunderung runde Augen.
    Viel zu schnell ließ er sie los. »Wann hast du Schluss?«, fragte er.
    »Noch drei Stunden«, antwortete Lucy.
    »Ok. Dann habe ich genug Zeit für Oscar Wilde. Gehen wir danach etwas essen?«
    »Gern«, sagte Lucy und gemeinsam betraten sie den Lesesaal.
    Es wunderte Lucy nicht, dass Nathan nach der Kurzfassung der Belehrung seine Stifte und seinen Skizzenblock hervorholte. Sie beobachtete ihn eine Weile, wie er mit geschickten Fingern begann, den Einband zu kopieren. Lange würde er nicht dafür brauchen. Wie 1891 nicht anders üblich, war der Einband recht schmucklos gestaltet. Zu dieser Zeit wurde mehr Wert auf den Inhalt gelegt. Lucy fragte sich, weshalb Nathan sich die Mühe machte.
    In diesem Moment hielt er inne und sah zu ihr auf. »Keine Arbeit heute?«, fragte er sanft.
    »Ich störe dich«, stellte Lucy fest.
    »So würde ich das nicht sagen, aber ich bin dabei ganz gern allein.«
    »Ok. Hab’ verstanden. Bis später.«
    Nathan griff nach ihrer Hand, als sie sich abwandte.
    »Nicht böse sein«, sagte er leise. Bei dem Blick, den er Lucy schenkte, konnte sie nicht anders, als zu nicken.
    Er zögerte kurz, während er ihre Hand weiter festhielt. »Ich habe etwas vergessen. Könntest du mir Alice noch einmal hochschicken?«
     «Du musst nicht mitkommen. Sicher kann deine Kollegin es mir aus dem Aufzug holen.«
    Er sah sie abwartend an. Es war gegen die Vorschrift, aber wem, wenn nicht ihm, konnte sie vertrauen.
    »Ja klar, ich sage ihr Bescheid«, antwortete sie.
     
    Während Lucy den Lesesaal verließ, folgten Nathans Blicke ihrer schlanken Gestalt, bis sie verschwunden war.
    Es war ein Risiko, das wusste er. Wenn Lucy einen Blick in das Buch warf, würde sie Bescheid wissen, bevor er mit ihr gesprochen hatte.
    Als die Tür zuschlug, riss Nathan das benutzte Blatt aus seinem Skizzenblock und begann von Neuem. Diesmal würde er keinen Fehler machen. Er hatte sich Alice noch

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