Woerter durchfluten die Zeit
nicht meldete. Vielleicht war ihm sein letztes Abenteuer mit ihr zu eigenartig gewesen. Sein überstürzter Aufbruch war ihr gleich komisch vorgekommen. Sie hätte ihm nicht auch noch erzählen dürfen, dass die Bücher mit ihr sprachen.
Nach der Arbeit würde sie in seinem Haus nachfragen, nahm sie sich trotzig vor und packte das Buch, das sie gerade begutachtet hatte, vorsichtig ein. Dann trug sie es zurück an seinen Platz im Regal.
»Erinnere dich, Lucy«, wisperten die Bücher nachdrücklich, wie den ganzen Morgen und den Tag zuvor.
»Ich versuche es ja.« Sie hatte es sich angewöhnt, zu antworten, das war leichter, als die Bücher zu ignorieren. Dann fiel ihr etwas ein. Sie zog das Medaillon, das Madame Moulin ihr gegeben hatte, hervor und legte es auf ihre flache Hand. Sofort schwoll das Wispern an.
»Es ist von meinen Eltern«, erklärte sie. »Es ist ziemlich alt, deshalb glaube ich, dass es meiner Familie schon viel länger gehört.« Sie strich über das kleine Buch. »Es ist sogar ein Bild darin. Es zeigt meine Mutter und meinen Vater. Das ist alles, was mir von ihnen geblieben ist. Es gab noch einen Brief, aber der ist verschwunden. Er wurde gestohlen. Irgendjemand will nicht, dass ich herausfinde, wer ich bin.« Lucys Stimme klang resigniert. »Und wenn ich nicht einmal das herausfinden kann, wie soll ich dann wissen, weshalb ich mit euch reden kann?«
»Öffne es«, wisperten die Bücher. Lucy zuckte mit den Achseln. »Wenn ihr meint.«
Sie öffnete es und augenblicklich entströmte ihrem Mal dieses silberne Licht. Es wickelte sich wie zuvor in dem Café um das Medaillon. Gleißend helle Strahlen blendeten Lucy und sie kniff die Augen zusammen. Die Bücher ließen nicht locker.
»Sieh es dir an«, forderten sie.
Langsam öffnete Lucy die Lider und blickte in das Licht hinein. Bilder manifestierten sich vor ihr. Schreckliche Bilder. Voller Entsetzen starrte sie in das Licht, unfähig, den Blick abzuwenden.
Sie sah Männer, die ihre Frauen und Kinder in den Armen hielten, während sie zu großen, brennenden Feuern getrieben wurden. Auf diesen Scheiterhaufen waren bereits die Überreste von Menschen zu erkennen. Aber ohne Gnade stieß man immer mehr von ihnen hinein. Lucy kniff die Augen zusammen, so sehr grauste es sie.
Doch der Drang zu sehen, was in dem Licht passierte, war stärker. Sie sah vier Männer, die Bündel in den Armen trugen. Zwei der Päckchen bewegten sich. Es mussten Neugeborene sein, so klein waren sie. Eines der Kinder schrie herzerweichend. Dann waren da Männer und Frauen, versammelt in einem Raum voller Bücher. Der Raum war in rohen Stein geschlagen. Die Frauen weinten und die Männer standen mit versteinerten Gesichtern da. »Wir müssen den Berg verschließen«, sagte einer von ihnen. »Nur so können wir den Schatz verbergen.«
Derselbe Mann nahm ein Buch von einem schlichten Holzpult und schlug es in ein Tuch aus Leinen. »Du wirst das Evangelium bewahren«, befahl er dem Mann, dem er das Päckchen anvertraute. »Schwöre es.«
Der Angesprochene fiel auf die Knie. »Ich, Amiel Aicard, schwöre es bei meiner unsterblichen Seele.«
Das Bild verschwamm. Lucy sah einen Berg, auf dessen Gipfel eine Burg thronte. An seinem Fuß lagerte eine riesige Armee von Kreuzrittern. Über den Zelten flatterte die mittelalterliche Flagge des Vatikans: ein weißes Kreuz auf rotem Untergrund.
Dann verschwamm das Bild und Lucy sah ein kleines Mädchen. Es war vielleicht fünf Jahre alt. Eine Frau saß neben ihm auf einer steinernen Bank. Sie mussten sich in einem Garten befinden, denn Lucy sah deutlich die Rosenbüsche, die dort wuchsen. Beide weinten. »Wir können nicht fortgehen, Philippa«, sagte die Frau. »Du weißt, dass dein Vater und ich dich aufgenommen haben, nachdem deine Mutter im Kindbett gestorben ist. Und doch liebe ich dich wie meine eigene Tochter. Du bist Philippa Plantagenet, die zukünftige 5. Countess of Ulster, und du bist deinem Vater verpflichtet. Du wirst tun müssen, was er dir befiehlt.«
»Es ist nicht richtig, was der Bund tut«, erwiderte das Kind störrisch.
»Sie würden uns finden, egal wohin wir fliehen. Hörst du? Verstehst du, was ich sage? Du wirst deine Aufgabe erfüllen wie deine Mutter vor dir. Du wirst den Bund nicht infrage stellen.«
»Ja, Mama. Ich verstehe.« Das Mädchen zog den Ärmel seines Kleides nach oben. Lucy hielt den Atem an. Dasselbe Mal, das ihr Handgelenk zierte, prangte auch auf dem des Mädchens.
Das Kind sah auf. Es
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