Woerter durchfluten die Zeit
Anstalten, ihr das Medaillon aus der Hand zu nehmen. Irritiert klappte sie es zu. War er böse, dass sie etwas über ihre Eltern wusste und er weiter im Dunkeln tappte?
Ihre Finger glitten über das Kreuz, das das kleine Buch auf der Vorderseite zierte.
»Ein merkwürdiges Kreuz, findest du nicht«, sagte sie leise. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Es ist ein okzitanisches Kreuz, Lucy«, sagte Nathan mit belegter Stimme.
Erstaunt sah sie auf. »Du kennst es?«
Er nickte. »Es ist das Kreuz der Katharer. Hast du nie von ihnen gehört?«
Verwirrt schüttelte Lucy den Kopf und hielt kurz darauf inne. »Doch warte. Es war eine christliche Sekte, richtig? Sie wurden von der Kirche verfolgt und vernichtet, oder?«
Nathan nickte. »Ihre letzte Zuflucht fanden sie auf Montségur, einer Burg in Frankreich. Doch der Papst ließ sie auch dort verfolgen und vernichtete sie in einer einzigen Nacht. Er ließ jeden, der dem Glauben der Katharer nicht abschwor, verbrennen«, ergänzte er.
»Männer, Frauen und Kinder«, flüsterte Lucy, der in diesem Moment klar wurde, welche Bilder ihr das Medaillon gezeigt hatte. Die Scheiterhaufen, das päpstliche Heer – es gab keinen Zweifel.
»Ich habe es gesehen«, sagte sie leise und Nathan runzelte die Stirn.
»Wie meinst du das?«
»Das Medaillon hat es mir gezeigt. Es ist wieder so etwas Unerklärliches.« Sie lachte verlegen auf. »Es verbindet sich mit meinem Mal und zeigt mir Bilder. Es ist alles furchtbar lange her, aber ich glaube, ich habe diese Schlacht gesehen – und ein Mädchen. Ihr Name war Philippa.«
Nathan ihr gegenüber wurde bei der Erwähnung des Namens bleich.
»Siehst du nur Bilder?«, fragte er tonlos.
»Nein. Ich höre auch, was sie sagen.« Lucy griff nach Nathans Hand. »Alles in Ordnung, Nathan? Du bist ganz weiß.«
Er zog seine Hand zurück. »Es ist nichts. Mach dir keine Gedanken.«
»Ich verstehe, wenn du das alles etwas schräg findest«, antwortete Lucy. »Ich finde das ja auch. Du musst sagen, wenn wir nicht mehr darüber reden sollen. Ich will dich in nichts reinziehen. Madame Moulin sagt, dass es gefährlich ist. Vikar Ralph ist deswegen ermordet worden und im Heim wurde eingebrochen. Vielleicht ist es besser, wenn wir uns eine Weile nicht sehen.«
Erst während Lucy es aussprach, wurde ihr klar, dass sie Nathan in etwas verwickelt hatte, das ihn in Gefahr bringen konnte. Der Gedanke, dass er sich von ihr zurückziehen könnte, schmerzte sie, doch sie wollte ihn nicht ganz verlieren. Vielleicht konnten sie sich wiedersehen, wenn es vorbei war, wenn sie herausgefunden hatte, was das alles bedeutete. Und was, wenn es nie vorbei war? Wenn es zukünftig ihr Leben bestimmen würde?
Nathans Stimme unterbrach ihre Gedanken. »Lass uns gehen, Lucy.«
»Aber wir haben nicht einmal …« Sein Blick duldete keinen Widerspruch.
Schweigend liefen sie nebeneinander her.
»Ich bringe dich nach Hause«, sagte Nathan nach einer Weile.
Lucy verbarg ihr Gesicht im Kragen ihrer Jacke. Dem schneidenden Wind, der über die Straße fegte, entging sie damit nicht, aber wenigstens konnte Nathan den Kummer in ihren Augen nicht sehen. Das war es dann wohl. Trotz machte sich in ihr breit. Hatte er nicht versprochen, ihr zu helfen? Hatte er nicht gesagt, sie könne ihm vertrauen? Oder war das angesichts der Gefahr zu viel verlangt? Hatte sie das Recht, seine Hilfe zu erwarten?
Sie durfte ihm nicht böse sein. Ein junger Mann, noch dazu einer, der so aussah wie er, sollte auf Partys gehen und sich mit Mädchen vergnügen. Ganz sicher sollte er nicht in so eine abstruse Geschichte verstrickt werden, die schon jemanden das Leben gekostet hatte. Lucy war in diesem Moment froh, dass sie Colin, Marie und Jules nichts erzählt hatte. Mehrmals war sie kurz davor gewesen. Er würde sie jetzt nach Hause bringen und sich von ihr verabschieden. Sie würde es ihm nicht nachtragen. Das wäre unfair. Er hatte getan, was er konnte, mehr sollte sie nicht verlangen.
Lucy wusste nicht, wann Nathan nach ihrer Hand gegriffen hatte. War es gewesen, bevor sie in die U-Bahn gestiegen waren oder danach?
Erstaunt erkannte sie, dass sie mittlerweile vor ihrem Haus angelangt waren.
»Du warst so in Gedanken versunken, dass ich dich lieber festgehalten habe«, erklärte Nathan, der offenbar Lucys Blick auf ihre ineinander verschränkten Hände bemerkt hatte. »Ich wollte dich nicht verlieren«, fügte er hinzu.
»Dann kannst du mich jetzt loslassen«, sagte Lucy und sah
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