Woerter durchfluten die Zeit
die Tür vor der Nase zu.
Lucy blieb unschlüssig auf dem Absatz stehen. Was sollte sie jetzt tun? Hier warten? Es war kalt. Ziemlich kalt sogar. Aber wenigstens regnete es nicht. Lucy ließ sich erschöpft auf eine der Treppenstufen sinken. Irgendwann in dieser Nacht würde Nathan nach Hause kommen und dann würde sie hier sein.
Sie strich mit ihren Fingerspitzen über ihre Lippen. Fast meinte sie, ihn noch zu schmecken. Es war ein herber Geschmack, der sie an ganz besondere Bücher erinnerte. Sie verströmten diesen einzigartigen Geruch nach Wald, Leder und längst vergangener Zeit. Diese Bücher liebte sie am meisten. Bevor sie ihre Worte las, versenkte sie sich in die Seiten und sog den Duft ein. Bei diesem Gedanken lächelte sie.
Nathan stand in seinem Schlafzimmer hinter der Gardine und sah auf Lucy hinab. Miss Hudson hatte ihn nicht heimkommen hören. Er war besonders leise gewesen. Er hasste es, wenn sie ihn überwachte wie ein kleines Kind. Was sollte er jetzt tun? Lucy saß da unten in der Kälte und wartete auf ihn. Sie wollte eine Erklärung. Vorhin wäre der geeignete Moment gewesen, ihr alles zu sagen. Ihr klarzumachen, wer er war. Wer sie war. Doch das Verschmelzen der Lichter hatte ihn überrumpelt. Er hatte sie nur küssen wollen. Er wollte wissen, wie sie schmeckte, wie sich ihre Lippen unter seinen anfühlten. Und dann hatte es ihn überwältigt. Er hatte sich hinreißen lassen. Das hätte nicht geschehen dürfen. Sie würde ihm nie gehören. Er war zu weit gegangen und sein Mal hatte ihn verraten. So sorgsam hatte er es die ganze Zeit vor ihr verborgen.
Er wandte sich ab. Er wollte sie dort nicht sitzen sehen. Sie wirkte schutzlos wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Hätte sie ihm vertraut, wenn sie gewusst hätte, dass er das gleiche Mal trug wie sie? Er hätte sich ihr viel früher offenbaren müssen. Unruhig tigerte Nathan durch sein Schlafzimmer.
Verdammt, weshalb saß sie immer noch dort? Nathan war wieder ans Fenster getreten. Es war kalt da draußen. Viel zu kalt, um auf den Stufen zu sitzen. Sie sollte nach Hause gehen. Er brauchte noch Zeit, um ihr alles zu sagen. Um ihr zu erklären, dass sein Weg der richtige war. Er hatte die passenden Worte noch nicht gefunden.
Wie viel sollte er ihr sagen? Weshalb hatte sein Großvater auch diesen Vikar umbringen lassen? Weshalb hatte er den Brief gestohlen? Gut, das war notwendig gewesen. Ihre Eltern hatten in dem Schreiben den Bund verunglimpft. Das konnte er ihr nicht erklären. Jetzt noch nicht. Er konnte ihr nur von seiner Aufgabe erzählen, das würde sie verstehen.
Sie zitterte. Er sah es deutlich. Weshalb hatte sie immer noch diese viel zu dünne Jacke an? Konnte sie sich nicht einmal warm genug anziehen? Nathan fluchte. Beinahe eine Stunde saß sie bereits in der Kälte. Wie konnte jemand so starrköpfig sein? Sie würde sich den Tod holen. Schimpfend zog er seine Tür auf und lief leise die Treppe hinunter.
Er riss die Eingangstür auf. Lucy wandte nicht einmal den Kopf. Er kniete neben ihr nieder. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Lippen blau angelaufen.
»Lucy«, flüsterte er. »Lucy, du musst aufstehen. Du kannst nicht die ganze Nacht hier sitzen.«
Sie reagierte mit einem Blinzeln. Nathan zog sie hoch und nahm sie auf seine Arme. Ihr Körper war eiskalt. Vorsichtig trug er sie die Stufen hinauf. Sein Zorn war verflogen.
In seinem Zimmer angekommen, legte er sie auf sein Bett und zog ihr Jacke und Schuhe aus. Sie reagierte kaum. Stirnrunzelnd stand er vor ihr. Er öffnete ihre Jeans und zog sie ihr aus. Danach wickelte er sie in seine Decke. Er war nicht sicher, ob das reichen würde, um sie aufzutauen. Sie zitterte immer noch. Kurz entschlossen zog er Hose, Hemd und T-Shirt aus. Dann löschte er das Licht im Zimmer und legte sich neben sie. Er zog Lucy eng an sich und hielt sie fest. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis sie aufhörte zu beben. Irgendwann entspannte sie sich und drehte sich zu ihm, sodass ihr Gesicht auf seiner Brust ruhte. Doch sie wachte nicht auf. Nathan strich ihr eine rote Locke aus dem Gesicht. Sie lächelte. Ob sie träumte? Nathan schlang beide Arme um ihren Körper und schloss die Augen. Nur diese eine Nacht schwor er sich.
Wie wenig du gelesen hast,
wie wenig du kennst
- aber vom Zufall des Gelesenen
hängt es ab, was du bist.
Elias Canetti
15. Kapitel
Lucy öffnete die Augen. Wo war sie? Sie erinnerte sich nur noch an die eisigen Stufen vor Nathans Haus.
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