Wofuer die Worte fehlen
die plötzlichen Wutausbrüche, die für alle völlig unberechenbar über die Familie hereinbrachen. Daher bemühte er sich, so zu sein, wie sein Vater ihn haben wollte, und stellte sich bei den Streitereien immer häufiger auf seine Seite.
»Wir Männer müssen zusammenhalten!«, sagte der Vater dann oft und legte den Arm um Kristian. »Du bist der Einzige, der mich versteht.«
Und Kristian tat alles, damit das so blieb.
Kristian war der Liebling seines Vaters, der sich immer einenSohn gewünscht hatte. Bis er in die Schule kam, erfüllte er auch alle Erwartungen. Er war ein hübsches, lebhaftes Kind mit blonden Locken, spielte gut und gerne FuÃball, sprach mit der Mutter slowakisch und mit dem Vater deutsch, in beiden Sprachen zu Hause, für alle ein untrügliches Zeichen für die Intelligenz des Jungen.
Auch in den ersten Schulmonaten hielt der Vater seinen Sohn noch für den besten und klügsten Jungen, den diese Welt jemals gesehen hatte.
Seine Mutter tat alles, um den Vater in diesem Glauben zu bestärken, und verschwieg die vielen Anrufe der Lehrerin, die sich über Kristians unruhiges Verhalten beschwerte. Sie tat alles, damit es keinen neuen Streit gab.
Kristian erinnert sich auch an viele schöne Momente, wenn sie abends alle zusammensaÃen oder wenn sie gemeinsam die GroÃeltern in der Slowakei besuchten. Aber diese Momente werden verdrängt durch die Erinnerung an die unendlich vielen Abende, in denen der Vater wutgeladen ausrief: »Es war ein Fehler, dass ich dich geheiratet habe! Du und deine Tochter, ihr habt nur Ãrger ins Haus gebracht!« Dann legte der Vater den Arm um Kristian. »Das einzig Gute an dieser Ehe bist du!«
Immer wieder fiel das Wort »Trennung«. Der Vater benutzte es als Zauberwort. Wenn er es aussprach, herrschte entsetztes Schweigen in der Familie. Kristian, die Mutter, ja selbst Katarina hielten die Luft an. Was würde aus Ihnen werden, wenn er sich scheiden lie� Zurück in die Slowakei, zurück in ein Leben auf dem Bauernhof? Für die Mutter war das eine schreckliche Vorstellung. Keiner zweifelte daran, dass der Vater recht hatte, wenn er sagte, die Mutter würde nach einer Scheidung sofort ausgewiesen werden, weil ihre Aufenthaltsgenehmigung von ihrer Ehe abhing.
In dem kleinen Dorf, aus dem sie kam, war es schon einSkandal gewesen, als ihr Freund sie kurz nach der Geburt Katarinas mit einem unehelichen Kind sitzen lieÃ. Seit ihrer Hochzeit mit Kristians Vater war die Dorfwelt wieder in Ordnung, aber als geschiedene Frau hätte sie sich da nicht mehr blicken lassen können.
Da der Vater sich schon aus Zeitgründen wenig um Kristians Schulaufgaben kümmerte, ahnte er nicht, dass Kristian so gar keine Fortschritte im Erlernen der Buchstaben machte und seine Hefte aussahen, als wäre ein mittelschweres Gewitter darüber hergefallen. Aber dann kam der erste Elternsprechtag, zu dem der Vater noch mit freudiger Erwartung zusammen mit der Mutter aufbrach. Es sollte sein erster und für lange Zeit der letzte Besuch in der Schule werden.
»Ihrem Sohn fehlt die nötige Reife. Es ist besser, Sie nehmen ihn zurück in die Vorschule, damit er im Herbst erneut eingeschult werden kann«, sagte die Lehrerin. Jedes ihrer Worte brannte sich bei seinem Vater wie mit einem glühenden Messer ein. Für die Mutter war es weniger schlimm, denn sie war ja durch die Anrufe aus der Schule bereits vorbereitet.
Obwohl Kristian bei dem Gespräch nicht dabei war, kannte er jedes Wort, das gesprochen wurde, weil es ihm tausendmal von allen Seiten um die Ohren geschlagen wurde.
Zunächst schwieg der Vater, als er nach Hause kam. Kein Wort zu Kristian, kein Wort zur Mutter. Erst als Kristian im Bett lag, hörte er die erregten Stimmen seiner Eltern aus dem Wohnzimmer. Sie waren so laut, dass er sie gut verstehen konnte: »Mein Sohn wird ausgeschult, weil er zu dumm für die Schule ist. Noch nicht einmal das Abc beherrscht er!«
»Aber die Lehrerin hat doch gesagt âºunreifâ¹! Das hat mit Dummheit nichts zu tun«, versuchte die Mutter die Situationzu retten, aus Furcht vor einem Wutanfall ihres Mannes. »Er ist eben ein Spätentwickler, er braucht etwas länger.«
»Spätentwickler! Doch nicht mein Sohn!« Die Stimme des Vaters überschlug sich, so erregt war er. »Vielleicht ist er ja gar nicht mein Sohn! Vielleicht hast du mir ein Kuckucksei ins
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