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Wofuer die Worte fehlen

Wofuer die Worte fehlen

Titel: Wofuer die Worte fehlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Philipps
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Vaters musste sie nachmittags zu Hause bleiben, auf Kristian aufpassen und mit ihm Hausaufgaben machen, bis der Vater kam. Das tat sie auch mit erstaunlicher Geduld, übte Lesen und Diktate mit ihm, getragen von der Vorfreude, am Abend ausgehen zu dürfen.
    Seine Abende verbrachte Kristian mit dem Vater alleine, da Katarina die unerwartete Freiheit in vollen Zügen auskostete. Er durfte lange aufbleiben und Filme ansehen, die seine Mutter niemals erlaubt hätte. Es waren Filme, die er nicht wirklich verstand, ja, die ihm Angst machten, aber das hätte er niemals zugegeben. Es waren »Männerfilme«, wie sein Vater ihm erklärte. Eng an den Vater gekuschelt schaute er den Frauen und Männern auf dem Bildschirm zu, wie sie seltsame Verrenkungen machten und dabei schrecklich stöhnten, sodass er sich manchmal die Ohren zuhielt.
    Seinem Vater gefielen dagegen die Filme so gut, dass er jeden Abend aus der Videothek einen neuen holte. Später im Bett, wenn sie eng aneinandergekuschelt dalagen und der Vater Kristian streichelte, waren beide froh, dass sie nicht alleine waren.
    Manchmal schlug der Vater vor, eine Szene aus den Filmen nachzuspielen. Kristian mochte diese Spiele nicht, aber da sie dem Vater gefielen, sagte er nichts. Er wollte ihn nicht schon wieder enttäuschen. Er war froh, wenn der Vater mit ihm zufrieden war, und das zeigte er tagsüber, indem er Kristian jeden Wunsch erfüllte.
    Â»Ich bin enttäuscht!« Diese drei gefürchteten Worte gabes abends im Bett bei den gemeinsamen Spielen nicht und es gab sie bald auch dann nicht mehr, wenn Kristian mit einer schlechten Note oder einem Elternbrief nach Hause kam. Der Vater unterschrieb, ohne wie früher einen bösen Kommentar zu machen, alles, was Kristian ihm vorlegte.
    Kristian konnte aufatmen, das Grummeln in seinem Bauch überhörte er. Noch war es leise.

Die Grundschule überstand Kristian nur mit viel Glück und dem Wohlwollen seiner Lehrerin. In seinen Zeugnissen wimmelte es von Vieren und Bemerkungen wie: »Kristian kann sich nicht lange konzentrieren. Er ist häufig abgelenkt und kann kaum still sitzen.«
    Diktate mit weniger als fünfzehn Fehlern waren die Ausnahme, und auch in Mathe, das ihm von allen Fächern außer Kunst am besten gefiel, verrechnete er sich ständig, weil er zu schnell fertig werden wollte.
    Â»Kristian, dies ist eine Mathearbeit und kein Wettrennen!«, sagte seine Lehrerin oft verzweifelt, wenn er mal wieder als Erster die Arbeit beendete, im Glauben, alles richtig gelöst zu haben. »Lies noch einmal alles in Ruhe durch. Wir beide wissen doch, dass du es im Grunde kannst.«
    Aber genau das fiel ihm schwer. Es fehlte ihm die Ausdauer, länger als zehn Minuten an einer einzigen Sache zu sitzen. Nur beim Zeichnen gelang es ihm. Da saß er versunken eine um die andere Stunde und vergaß die Zeit.
    Den Biologieunterricht in der fünften Klasse machte Herr Mönck. Auf dem Lehrplan stand in diesem Schuljahr der Körper des Menschen. Kristian lernte etwas über das Auge, das Ohr, die Nerven und die Verdauung. Er erfuhr, wie das Blut in seinem Körper kreiste und wie das mit dem Atmen funktionierte. Er lernte die Namen von Knochen und Muskeln auswendig und zeichnete verschiedene Muskelstränge aus seinem Biologiebuch ab.
    Die letzte Unterrichtseinheit zum Thema »Mensch« hieß »Fortpflanzung und Entwicklung«. Unter der Überschrift:»Entwicklung zum Erwachsenen« lernte Kristian die Bezeichnungen für männliche und weibliche Geschlechtsorgane. Es gab Arbeitsblätter, Folien, einen Film und einen Lückentest über die sekundären Geschlechtsmerkmale und die Hormondrüsen bei Mann und Frau. Ausführlich und in alle Richtungen wurde das Thema besprochen.
    Kristian mochte es von Anfang an nicht besonders. Es machte ihm ein unangenehmes Gefühl im Bauch und erinnerte ihn an die Filme, die er immer wieder mit dem Vater anschauen musste. Sie waren ein Teil seines Lebens geworden, sie gehörten dazu wie das morgendliche Frühstück – immer dann, wenn die Mutter nicht da war –, aber er mochte nicht darüber reden, er wollte überhaupt nicht über seinen Körper reden, nicht über die Verdauung, nicht über das Skelett und schon gar nicht über seine Geschlechtsorgane.
    An manchen Tagen, wenn Bio auf dem Stundenplan stand, blieb er dem Unterricht fern, ließ sich wegen Bauchschmerzen nach

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