Wofuer die Worte fehlen
Nest gelegt! Moral ist für dich doch ein Fremdwort. Du hast schon ein uneheliches Kind.«
Die Mutter versuchte sich zu verteidigen. Ihr Freund sei eines Tages in den Westen verschwunden, habe versprochen, sie nachzuholen und sei nie wieder gekommen. Mit Oma Hertas Hilfe zog die Mutter Katarina alleine auf, bis sie Kristians Vater kennenlernte.
»Mir kommen gleich die Tränen!«, unterbrach sie der Vater. »Du hast mich doch nur benutzt, um aus deinem Dorf herauszukommen.«
Und dann war aus dem Wohnzimmer nur noch eine Stimme zu hören. Der Vater spuckte wieder einmal alles aus, was ihn in den letzten Jahren geärgert hatte. Zwischendurch, wenn er schwieg, weil er Luft holen musste, hörte Kristian das Schluchzen seiner Mutter.
Am nächsten Tag sagte sie zu ihm: »Streng dich ein bisschen mehr an. Du schaffst das. Du willst doch nicht, dass dein Vater enttäuscht ist, oder?«
Es gab nichts, was Kristian mehr fürchtete. Und so strengte er sich an, obwohl er nicht wusste, wo genau sein Fehler lag. Er machte die gleichen Sachen wie die anderen, aber während die schwarzen Buchstaben bei fast allen anderen aus seiner Klasse nach einem knappen Jahr bereits einen Sinn ergaben, blieben sie für Kristian einfach nur nett anzusehende, aber zunehmend furchterregende schwarze Zeichen. Aber je mehr er sie hasste, desto weniger kam er hinter das Geheimnis ihrer Bedeutung.
Auch die Lehrerin gab sich groÃe Mühe mit ihm. Täglichkam sie mit neuen Vorschlägen, wie Kristian seine Lücken schlieÃen könnte. »Deine Eltern müssen mal mit dir lesen üben!« â »Lass dir den Satz zu Hause mehrmals diktieren. Irgendeiner wird doch zehn Minuten Zeit haben.«
Irgendwann gab sie auf.
Anfangs schimpfte sie immerhin noch mit ihm, wenn er wieder mal seinen Text nicht konnte und mit rotem Kopf an den paar Buchstaben knabberte, deren Bedeutung er nicht kannte. Dann gab sie auch das auf.
Seine Eltern hatten keine Zeit, mit ihm zu üben. Beide arbeiteten, der Vater besuchte Kurse, um Buchhaltung zu lernen. Er kam abends sehr spät nach Hause, schnappte sich seine Bierflasche und sank in den groÃen Sessel vor dem Fernseher. Die Mutter arbeitete in einer Kneipe als Kellnerin, und wenn sie abends zu Hause war, wollte auch sie keine Buchstaben mehr ansehen. Das bisschen Zeit, das sie noch hatte, brauchte sie für Katarina, die ihren ersten Liebeskummer durchlitt, viel Trost brauchte und noch mehr als sonst mit ihrem Stiefvater aneinandergeriet.
Am Ende des Schuljahres empfahl die Lehrerin erneut, dass Kristian die erste Klasse ein zweites Mal machen sollte. Sie zeigte der Mutter die Hefte der anderen Schüler und zum Vergleich die von Kristian.
»So sollte es sein und so sieht es bei Ihrem Sohn aus! Im nächsten Jahr wird er noch weniger mitkommen. Lieber jetzt einen Neuanfang als später eine Klasse wiederholen.«
Selbst der Vater, der sich geweigert hatte, zum Gespräch in die Schule mitzukommen, protestierte nun nicht mehr. »Wenn es sein muss, dann muss es sein!«, sagte er. »Jeder hat eine zweite Chance verdient. Aber ich bin enttäuscht.«
Kristian lernte diese drei Worte zu hassen: Ich bin enttäuscht. Und er hasste den dazu gehörigen Blick seines Vaters: wie sprödes Eis, das ihn frieren lieÃ. Daher gab er sichgroÃe Mühe, den Vater nicht zu enttäuschen. Alles wollte er tun, damit die Worte und der Blick ihn nie wieder treffen konnten.
Im Herbst wurde er zum zweiten Mal eingeschult, weniger feierlich als beim ersten Mal, aber mit den gleichen groÃen Erwartungen vonseiten der Eltern. Kristian freute sich, dass die schwarzen Buchstaben diesmal mehr Sinn ergaben und er schon bald Texte lesen konnte. Trotzdem hängten ihn die anderen auch diesmal bald ab.
Nur im Zeichnen war er der Beste und so schmückte er die Seitenränder seiner Hefte und Bücher mit kleinen und groÃen Zeichnungen, was auÃer ihn aber niemanden erfreute. Im Gegenteil. Wenn er statt eines Bleistifts einen Filzer oder gar einen Kugelschreiber für seine Bilder nahm, gab es doppelten Ãrger: von den Lehrern in der Schule und zu Hause von seinen Eltern, die die Bücher ersetzen mussten.
»Ich bin enttäuscht!« Trotz seiner Bemühungen wurden diese drei Worte zum ständigen Begleiter in Kristians ersten beiden Schuljahren. Er schaffte den Ãbergang in die zweite Klasse, aber niemand freute sich
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