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Wofür du stirbst

Wofür du stirbst

Titel: Wofür du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Haynes
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über neunundfünfzig Jahre lang mein Sonnenschein, mein Licht, meine Freude. Vi war der Grund, weshalb es mich gab, und ich der Grund, weshalb sie existierte.
    Ich war zweiundzwanzig Jahre alt, als wir uns zufällig begegneten. Ich hatte zwei Tage Landgang, dann musste ich wieder zurück auf mein Schiff. Es war Februar, und der See war zugefroren. Ich nahm auf dem Nachhauseweg eine Abkürzung durch den Park. Ich glaube, ich kam gerade vom Zigarettenholen. Auf alle Fälle hatte ich ein paar Besorgungen für meine alte Mutter gemacht. Ich sah eine Gruppe von Mädchen am See, die lachten und herumalberten. Dann flog etwas in die Luft, es war hellblau und sah aus wie die Flügel eines exotischen Vogels. Es segelte durch die Luft, und der Wind fing es auf.
    Dann rannten die Mädchen lachend davon, nur eines blieb am Seeufer zurück.
    Dieses blaue Etwas – ein Seidenschal, wie sich später herausstellte, den Vis französische Mutter vor dem Krieg in Paris geschenkt bekommen hatte – hatte Vi nicht einmal ansehen, geschweige denn tragen oder aus dem Haus nehmen dürfen. Und jetzt lag er verloren in einer kleinen, blauen Pfütze nur ein paar Meter vom Seeufer entfernt auf dem Eis.
    Bevor ich zu ihr gelangen und ihr helfen konnte, hatte sie bereits einen Fuß und gleich darauf den nächsten auf das Eis gesetzt und bewegte sich vorsichtig, aber entschlossen zur Mitte des Sees und auf den Schal zu. Sie war ein schmächtiges Mädchen, gerade mal achtzehn, leicht wie eine Feder und winzig, trotzdem war das Eis zu dünn, dank der blassen Februarsonne noch viel dünner als am Wochenende zuvor, als sie darauf Schlittschuh gelaufen war.
    Ich war noch etwa hundert Meter vom Ufer entfernt, als das Eis unter ihr knackte. Ich war jetzt nah genug, um das Entsetzen auf ihrem Gesicht zu erkennen und ihren Schrei zu hören, dann knackte es wieder, und das Eis gab unter ihr nach. Sie versank nur bis zur Brust im See – zum Glück war das Wasser hier nicht tiefer – trotzdem konnte sie sich nicht an das Eis klammern und aus eigener Kraft hochziehen.
    »Ich komme«, schrie ich, »keine Angst!« – als hätte das ihre Panik, in einem vereisten See zu stecken, irgendwie mildern können.
    Ich zog meinen Wollmantel und den Pullover aus, den Mom mir letzte Weihnachten gestrickt hatte, schließlich auch mein Hemd, und knotete alles an den Ärmeln zusammen. Doch das reichte immer noch nicht, also zog ich auch noch mein Unterhemd aus und knotete es am Ende fest. Währenddessen sah ich, dass sie immer blauer anlief. Jetzt war das provisorische Seil lang genug, sodass sie es ergreifen konnte, ich sagte ihr, sie solle es sich um die Hände wickeln, damit sie sich nicht daran festhalten musste, dann zog ich sie heraus.
    Wir zitterten beide am ganzen Leib, sie natürlich mehr als ich. Inzwischen hatte sich eine kleine Gruppe Schaulustiger um uns herum gebildet, darunter war auch mein Bruder Tom, der nachsehen wollte, wo ich so lange blieb. Er gab mir seinen Mantel, ein anderer Passant zog ebenfalls den Mantel aus und legte ihn der jungen Frau um die Schultern.
    Man brachte sie ins Krankenhaus, aber es ging ihr so weit gut. Sie schaffte es sogar, den Schal wieder in den Schrank ihrer Mutter zu legen, bevor diese etwas bemerkte.
    Am nächsten Tag besuchte ich sie, dann musste ich wieder zurück an Bord. Sie sagte mir, dass ich ihr das Leben gerettet hätte. So großartig fühlte ich mich aber gar nicht – was hätte ich denn sonst tun sollen? Sie im See stehen lassen? Aber da war es bereits um mich geschehen, denn ich hatte ihre wunderschönen grauen Augen und die Grübchen auf ihren Wangen gesehen, wenn sie lächelte.
    Wir heirateten 1943; das war der nächste Termin, an dem ich Landurlaub hatte – es war eine schlichte Hochzeit, ich trug Uniform, sie einen Mantel, den sie sich von einer Freundin geborgt hatte, und als Leihgabe den wunderschönen blauen Schal ihrer Mutter.
    Vi ist ein Jahr vor unserer diamantenen Hochzeit gestorben. Wir hatten ein großes Fest geplant, unsere Tochter Susan und ihre Familie sollten aus Australien anreisen, doch im Frühling wussten wir beide, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Sie hatte tapfer gekämpft, doch am Ende kam es, wie es kommen musste. Ich habe ihre Hand gehalten, als sie an einem regnerischen Tag im März starb.
    Ich küsste sie noch einmal zum Abschied und ging nach Hause.
    Sie wollen meine Geschichte hören, nicht wahr? Nun, meine Geschichte endete an dem Tag, als ich Vi im Krankenhaus

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