Wofür du stirbst
dürfen, doch immerhin hatte dieser ihm eine Bitte ausrichten dürfen. Stephen sollte ihm einen Anzug bringen.
»Wozu?«, fragte ich.
»Er muss morgen vor Gericht«, sagte Stephen. »Und will einen Anzug tragen. Als würde das etwas bringen.«
»Natürlich bringt das etwas«, sagte ich. Ich ging nach oben und suchte seinen besten Maßanzug heraus, den er immer zu Vorstandssitzungen trug.
Dazu ein frisches Hemd und die dunkelblaue Seidenkrawatte, die seine Augenfarbe unterstrich.
Er wurde am nächsten Morgen des Besitzes von Kinderpornografie angeklagt. Der Schock saß tief. Ich glaube, sie dachten, ich würde es bloß nicht wahrhaben wollen – Stephen sagte in der Tat so etwas in der Art –, doch das war es nicht. Ich wusste, dass so etwas völlig unmöglich war, einfach nicht wahr sein konnte. Es gab nur wenige Menschen, denen ich mich anvertrauen konnte, eine davon war meine Schwester Janet, die ungefähr zwanzig Meilen von uns entfernt wohnte. Ich zog ein paar Tage zu ihr, weil Stephen darauf bestanden hatte. Ich glaube, er fürchtete, die Presse könne Wind davon bekommen und wollte nicht, dass man mich im Garten oder einsam am Fenster stehend fotografierte.
»Ich kann es nicht glauben«, sagte ich zu Janet. Das hatte ich bestimmt schon fünfmal zu ihr gesagt. »Ich kann nicht glauben, dass das wahr ist. Ich meine, wir haben doch immer noch ein erfülltes Sexleben! Er würde doch bestimmt nicht …«
Sie sah mich über den Rand ihrer Tasse an und ließ mich einfach reden. Das Problem war, dass auch das nichts half. Darüber zu reden machte es nur noch schlimmer, weil die Fassungslosigkeit nicht verschwand. Es schien, als habe jemand das alles nur erfunden, um uns zu ärgern. Ich überlegte, wer uns so hasste, dass er uns so etwas antat und unser Leben zu zerstören versuchte.
Am Ende ließ man ihn auf Kaution frei, und er kam wieder nach Hause. Doch da hatte die Presse bereits Wind von der Sache bekommen, man wusste, wer er war und was man ihm zum Vorwurf machte, darum standen plötzlich TV-Übertragungswagen vor unserer Einfahrt.
Wir zogen nach London. Leonard durfte das Land nicht verlassen, also mussten wir unseren Urlaub streichen, den wir bereits gebucht und bezahlt hatten. Unsere Versicherung kam für den Schaden nicht auf; offenbar berechtigt eine Verhaftung nicht zum Schadensersatz, selbst wenn man unschuldig ist. Er wollte mich dazu überreden, alleine zu fahren, aber das konnte ich nicht. Was, wenn sie wiederkamen und ihn ohne mein Wissen mitnahmen? Außerdem wollte ich jeden Augenblick mit ihm verbringen, falls es zum Schlimmsten kam.
Er bemühte sich sehr, Normalität vorzutäuschen. Wir versuchten, so gut wie möglich in dem kleinen Haus unserer Freunde, die in Übersee wohnten, ein normales Leben zu führen. Nur der engste Familienkreis wusste, wo wir waren, und natürlich die Polizei. Leonard verließ das Haus nur einmal in der Woche, um sich bei der Polizei zu melden. Sobald er das Revier verließ, fuhren wir einen Riesenumweg, um uns zu vergewissern, dass uns niemand nach Hause folgte.
Schließlich wandte sich die Presse anderen Themen zu, trotzdem hatte ich immer noch Angst, nach Hause zurückzukehren.
Meine Schwester Janet fragte mich, was er zu all dem zu sagen hatte, wie seine Rechtfertigung lautete. Ehrlich gesagt habe ich nie mit ihm darüber gesprochen. Ich habe ihn nicht einmal gefragt, ob er die Verbrechen tatsächlich begangen hatte, deren man ihn beschuldigte, so sehr vertraute ich ihm. Er war mein Mann, ich hatte geschworen, ihm stets zur Seite zu stehen, in guten wie in schlechten Zeiten, und das waren so schlechte Zeiten, dass es schlechter nicht mehr ging. Also fasste ich den Entschluss, dass er unschuldig war, dass es sich um ein Missverständnis handeln musste, oder irgendwer aus Böswilligkeit das Ganze verursacht hatte.
Doch sosehr ich mich auch bemühte, normal weiterzuleben, nichts war mehr so wie vorher. Leonard verkroch sich stundenlang und arbeitete an seinen Verteidigungsstrategien. Spätabends, wenn ich schon im Bett lag, hörte ich ihn weinen. Obwohl er sich bemühte, die Unterlagen durchzusehen, die sein Anwalt ihm vorbeibrachte, damit er was zu tun hatte, veränderte sich sein Verhalten. Er schien aufgegeben zu haben.
Ich hatte noch nicht aufgegeben, noch lange nicht.
Der Prozess änderte alles. Es war noch kein Jahr vergangen seit jenem Dienstagmorgen, als man ihn verhaftet hatte. Wir waren alle vorbereitet, der Anwalt hatte uns erklärt, was wir zu
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