Wofür du stirbst
Revier fahren?«
Er sah mich prüfend an. »Alles in Ordnung? Tut mir leid, ich hätte nicht gedacht – ihn wiederzusehen …«
»Darum geht es nicht«, sagte ich schnell, obwohl ich beinahe einen Herzinfarkt bekommen hätte, als Colin auf der Straße gestanden und direkt zu uns herübergeschaut hatte. »Ich muss zur Arbeit …«
»Ich habe dir doch schon gesagt«, seufzte er, während er zur Hauptstraße zurückfuhr, »dass sie gar nicht mit dir rechnen; du hast immer noch Sonderurlaub wegen eines Trauerfalls. Außerdem müssen wir mit jemandem reden, der viel wichtiger ist.«
Wie sich herausstellte, wohnte Lindsay Brown nur ein paar Ecken von Colin entfernt den Hügel hinunter Richtung Stadtzentrum. Das große Haus war in mehrere Wohnungen aufgeteilt. Lindsay und Audrey wohnten im Erdgeschoss.
»Oh«, sagte sie und öffnete die Tür, bevor wir anklopfen konnten.
»Lindsay?«, fragte Sam. »Ich bin vom Chronicle . Wenn ich mich nicht irre, haben Sie mit einer Kollegin telefoniert.«
»Ja, äh … Ich wollte gerade zur Arbeit.«
»Oh, tut mir leid«, sagte er und schien es ehrlich zu meinen. »Ich wollte nur kurz mit Ihnen sprechen.«
Sie zögerte, hatte eine Hand auf der Türklinke, sah erst Sam, dann mich und dann wieder ihn an. »Na schön, wo Sie schon mal da sind. Ich habe noch fünf Minuten. Wollen Sie reinkommen?«
Das Wohnzimmer war aufgeräumt, die Möbel waren zwar alt und passten nicht wirklich zusammen, doch alles in allem wirkte es gemütlich. Durch einen großen Rundbogen gelangte man in die Küche. Das Geschirr vom Vorabend stand noch in der Spüle. »Darf ich Ihnen was zu trinken anbieten?«, fragte sie. »Tee oder so?«
»Das wäre großartig, danke. Dürfte ich vielleicht kurz die Toilette benutzen?«
»Da hinten«, sagte sie und füllte den Kessel mit Wasser, während Sam den Gang hinunterflitzte. Ich setzte mich verlegen auf den Rand eines durchgesessenen Sofas. »Sie sind immer im Team unterwegs, nicht wahr?«, fragte sie mich über das Geräusch des kochenden Wassers hinweg.
»Oh, äh – nein. Ich, äh, ich begleite ihn nur.«
»Sind Sie Praktikantin oder so?«
»Ja, so ähnlich.«
Ich sah natürlich viel zu alt aus für eine Praktikantin bei der Zeitung, aber ihr die Wahrheit zu erklären, würde zu lange dauern.
In der Zwischenzeit kam Sam zurück. Lindsay hatte drei Tassen auf den Tisch gestellt, dazu eine Dose Zucker und ein paar Löffel. Ich hatte plötzlich einen Riesenhunger und hätte sie beinahe gefragt, ob sie ein paar Kekse hätte.
»Macht es Ihnen was aus, wenn ich …?« Er zog seinen Laptop und einen Stift aus der Leinentasche und legte beides auf den Tisch, dann wedelte er mit seinem Handy vor Lindsays Nase herum. »Ich bin total schlecht im Notizen machen; das meiste vergesse ich …«
»Nur zu.«
»Danke.«
Er drückte auf die Aufnahmefunktion an seinem Handy und legt es auf den Couchtisch vor Lindsay.
»Wohnen Sie schon lange mit Audrey in dieser Wohnung?«
Sie wiegte ihre Teetasse hin und her und wirkte völlig entspannt – ihre Antwort konnte ich also bereits voraussehen.
»Nein, erst seit ein paar Monaten. Meine letzte Mitbewohnerin ist für längere Zeit auf Reisen. Audrey hat auf eine Anzeige geantwortet, die ich – übrigens im Chronicle – geschaltet hatte. Das war so, äh, im Februar oder März.«
»Kommen Sie gut miteinander aus?«
»Ich denke schon. Ehrlich gesagt sehen wir uns nicht sehr oft.«
»Weil sie viel ausgeht?«
»Sie war meistens bei ihrem Freund. Auch wenn sie nur selten bei ihm übernachtet hat, war ich meistens schon im Bett, wenn sie nach Hause kam.«
»Hieß ihr Freund Vaughn Bradstock?«
»Ja. Ein ziemlich komischer Kauz. Aber sie schienen sich gut zu verstehen. Jedenfalls bis letzte Woche.«
»Haben sie gestritten?« Sam rutschte auf seinem Sitz hin und her und nahm einen Schluck Tee.
»Sie haben sich getrennt. Ich denke, das ging von ihr aus.«
»Wissen Sie, wieso es zu der Trennung kam?«, fragte ich.
Sam sah mich erstaunt an – immerhin war das sein Interview –, doch ich war mir bisher als fünftes Rad am Wagen vorgekommen, außerdem war ich neugierig.
»Sie sagte, er wäre langweilig. Sie mochte ihn zwar sehr gerne, aber ich glaube, dass sie sich was Spannenderes wünschte. Er sammelt Briefmarken, das muss man sich mal vorstellen. Wer sammelt denn heutzutage und in diesem Alter noch Briefmarken?«
»War sie traurig darüber?«, fragte ich. »Ich meine – glauben Sie, dass sie deshalb Depressionen
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