Wofür du stirbst
muss ich zugeben, dass auch ich lachte, aber was hätte ich tun sollen – in Tränen ausbrechen? Sie meinten es nicht wirklich böse, obwohl jeder Außenstehende schockiert über manche ihrer Äußerungen gewesen wäre. Das ist eben ihre Art und Weise, mit jenen Dingen klarzukommen, die sie zu sehen bekamen und mit denen sie sich befassen mussten. Meine Hand betastete währenddessen unauffällig den Kristallengel, den ich stets bei mir trug, in der Hoffnung, er würde mir zu innerer Ruhe verhelfen. Dabei wollte ich doch einfach nur gute Arbeit machen, indem ich jemanden überredete, sich der Sache anzunehmen, sich dieses alarmierende Muster anzusehen, das diese ungeliebten, vernachlässigten Menschen miteinander verband.
In der Hoffnung, ich könnte dem Ganzen ein Ende bereiten.
Doch daran schienen sie kein Interesse zu haben. Am Ende beantwortete ich Frostys Mail, wobei ich die Kollegen von der Abteilung für Schwerverbrechen, Bill und sogar die Presseabteilung (warum denn nicht?) zu den Empfängern hinzufügte. In meiner Mail wies ich auf die äußerst beunruhigende Tendenz hin und deutete an, dass sie, selbst wenn es sich hier nicht um Verbrechen handelte, ein Hinweis auf eine dysfunktionale Gesellschaft sei, dass man etwas unternehmen müsse, auch wenn wir nicht direkt für so etwas zuständig seien. Die Abteilung für Schwerverbrechen löschte die Mail, ohne sie auch nur zu öffnen. Die Presseabteilung öffnete sie, löschte sie jedoch danach. Bill öffnete sie noch nicht einmal.
Bill war unser Vorgesetzter. Aufgrund der letzten Stellenkürzungen mussten wir ihn uns mit der East Division teilen, deren Leitung er innehatte. Obwohl er stets behauptete, immer ein offenes Ohr für uns zu haben, wenn wir ihn bräuchten, haben wir ihn, seit er unser Chef ist, in sechs Monaten höchstens zweimal zu Gesicht bekommen. Das sollte offenbar eine Ermunterung zur Selbstständigkeit und die Aufforderung sein, so wie immer weiterzumachen – doch in Wahrheit war er zu bequem, um die circa zwanzig Meilen zu einem anderen Polizeirevier zu fahren, wo er sowieso keinen Parkplatz finden würde.
Bis Mittwoch kam ich nicht dazu, an der Sache mit den Leichen weiterzuarbeiten. Ich musste mich einer anderen Aufgabe widmen, dem Profil eines weiteren Sexualtäters, der nach einer langen Haftstrafe kurz vor der Entlassung stand. Hier ging es lediglich um Risikomanagement. Ich sah mir sein Strafregister an, seine bisherigen Wohnorte, seine Bekanntschaften, seine Familie, suchte nach Hinweisen, nach denen ich abschätzen konnte, ob er weiter eine Gefahr darstellte. Alles ganz normal – schließlich ging es hier nur um unvorstellbares Leid, das über unschuldige junge Leben hereinbrechen konnte.
Kate hatte sich freigenommen, das machte die Sache noch anstrengender. Ich musste auch ihre Aufgaben übernehmen.
Ich war völlig auf die Arbeit konzentriert und bemerkte gar nicht, dass jemand hinter mir stand, bis ich die Hand auf meiner Schulter fühlte. Ich zuckte zusammen.
»Tut mir leid«, sagte er und lachte. Es war Andy Frost. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Schon in Ordnung, Sir.«
»Und hör mit dem ›Sir‹ auf, Annabel. Das habe ich dir schon mal gesagt.«
»Ich weiß. Macht der Gewohnheit.«
»Ich habe deine Mail bekommen«, sagte er und setzte sich auf die Kante von Kates Schreibtisch. »Meinst du, du könntest dir die Liste der Toten etwas genauer ansehen? Mir eine Art vergleichende Fallanalyse erstellen?«
»Natürlich. Die wird aber vermutlich recht unspezifisch ausfallen. Vergiss nicht, dass ihre Namen nur in den Einsatzprotokollen auftauchen; es gibt keine Verbrechensberichte. Manche dieser Protokolle sind unglaublich kurz.«
»Hmm«, sagte er nachdenklich. »Ich habe die Sache bei der Besprechung mit dem Einsatzteam erwähnt. Die Abteilung für Schwerverbrechen war natürlich nicht im Entferntesten daran interessiert, aber das wundert mich auch nicht. Die haben momentan viel um die Ohren. Aber Alan Robson hat die Ohren gespitzt, und ich habe ihm versprochen, weitere Einzelheiten zu liefern.«
»Alan Robson? Der Leiter der Verbrechensprävention?«
Andy nickte. »Ja – er wurde letzten Monat von der Taktischen Einheit dorthin versetzt.«
»Vermutlich will er nur Punkte für seine Karriere sammeln.«
»Und wenn schon, das ist besser als nichts. Du könntest hier auf etwas gestoßen sein, und natürlich hat dein Hinweis auf einen sozialen Missstand sein Interesse geweckt. Wenn sich herausstellt, dass wir
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