Wofür du stirbst
werden schon sehen. Ich habe gestern mit Dave Morris gesprochen – kennen Sie Dave? Er ist diensthabender Inspektor der Leitstelle. War früher mal bei der Verkehrspolizei.«
Ich nickte, als wüsste ich, wen er meinte, nur damit er mir nicht Dave Morris’ gesamte Berufslaufbahn herunterleierte.
»Er sagt, dass sie wegen der Presse jetzt unzählige Anrufe von besorgten Nachbarn erhalten. Alle paar Minuten einen: ›Hab die alte Dame von nebenan schon länger nicht mehr gesehen‹, oder ›Hier riecht es irgendwie komisch – vielleicht ist wer gestorben‹. Er sagt, dass man zur Sicherheit ständig Streifen losschickt, aber langsam reicht’s.«
Ich lächelte ihn an und hoffte, er würde nicht von mir verlangen, dass ich mich entschuldigte. Offenbar schien die ganze Sache einzig und allein meine Schuld zu sein, nur weil ich darauf aufmerksam gemacht hatte.
Zur Abwechslung schien die Sonne. Ich schloss die Vergleichsanalyse ab, übergab Andy Frost, Bill, Trigger und sonst jedem, der daran interessiert sein könnte, eine Kopie und hoffte, dass sich irgendwer der Sache annehmen würde. Doch ehrlich gesagt gab das Dokument nicht viel her. Es enthielt nicht viel mehr Informationen als die, die ich bereits ausgegraben hatte; die Tabelle sah zwar beeindruckend aus, doch meine offenen Fragen und meine Vorschläge waren zweimal so lange wie der Bericht an sich. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte flehentlich darum gebettelt, dass sich jemand um die Sache kümmerte.
Die Zeitung hatte ich bereits gelesen. Trigger und Kate glaubten, ich hätte den Journalisten alles gesteckt, aber ich war unschuldig. Schließlich hatten die Schreiberlinge direkte Verbindungen zum Büro des Untersuchungsrichters; da musste nur irgendwer beiläufig ein paar verweste Leichen erwähnen, schon wurden sie hellhörig.
Als Trigger zur Besprechungsrunde der Spätschicht ging, nahm ich die Zeitung vom Tisch und blätterte darin, bis ich die Spalte mit der Nachricht über die Leichen fand. Ich brauchte eine Weile, bis ich den Namen fand – er stand ganz am Ende. Sam Everett. Ich notierte ihn mir im Kalender und legte dann die Zeitung genau an die Stelle auf Triggers Schreibtisch, von der ich sie genommen hatte. Anschließend widmete ich mich wieder der Analyse von Einbrüchen, um die es in der morgigen Sitzung zum Thema Serienverbrechen ging. Ich versuchte nicht auf den Namen im Kalender zu sehen, doch mein Blick wurde immer wieder davon angezogen. Ich hatte das Gefühl, als hätten mich die Engel bereits mit ihm in Verbindung gebracht.
Nach der Arbeit lief ich den Hügel hinauf zum Park&Ride und sah mir die Auslagen der Geschäfte an. Obwohl ich erst später gegangen war, weil ich heute nicht für Mom einkaufen musste, hatte ich es keinesfalls eilig, nach Hause zu kommen. Die Katze konnte ruhig ein wenig auf ihr Abendessen warten. Ich wollte mich dort aufhalten, wo sich auch andere Leute aufhielten, auch wenn es diese Leute eilig hatten, irgendwo anders hinzulaufen. In ein paar Stunden würde die Stadt wieder voller Menschen sein, die sich mit Freunden trafen, zum Essen gingen, sich ein paar Drinks genehmigten und später vielleicht noch einen Club besuchten. So lange konnte und wollte ich nicht herumhängen. Sie würden sich betrinken und laut werden, sich erst gegenseitig und dann mich auslachen, den einzigen einsamen Menschen der Stadt. Genau wie in der Schule.
Als ich zur Haltestelle kam, sah ich die Rücklichter des Busses, die fast hundert Meter von mir entfernt im Verkehr aufleuchteten. Der nächste Bus kam erst in zwanzig Minuten, also lief ich die Abkürzung durch die Fußgängerzone. Vor dem Gemeindezentrum war eine weitere Haltestelle. Wenn ich nicht trödelte, konnte ich sie mit fünf Minuten Vorsprung vor dem Bus erreichen. Die Fußgängerzone war leer, die Geschäfte waren geschlossen, Zeitungen und Abfälle wirbelten im Wind und wehten auf mich zu.
Mein Vater hatte vor etlichen Jahren für die Gemeinde gearbeitet. Irgendwo in der Buchhaltung, aber Mom wusste da auch nichts Genaueres.
Dort hatte es vor fünfzehn Jahren auch eine Jobausschreibung gegeben, auf die ich mich bewerben wollte. Ich war damals Verwaltungsangestellte bei einem Anwalt, langweilte mich und hatte den gehässigen Umgangston satt, der unter den weiblichen Angestellten der Kanzlei herrschte. Doch Mom hatte mir abgeraten. »Da wird’s dir nicht gefallen«, hatte sie gesagt. »Dein Vater war nie glücklich dort. Diese ganze Bürokratie. Außerdem kannst
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