Wofür du stirbst
…«
»Wir nehmen weitere Anrufe zum Thema entgegen, also melden Sie sich! Sind Sie mit Ihren Nachbarn befreundet? Vielleicht sind Sie ja schon etwas älter und fangen an, sich Sorgen zu machen, oder Sie sind alleinstehend. Vielleicht machen Sie sich auch Sorgen um Ihre Nachbarn, wollen sich aber nicht aufdrängen. Rufen Sie uns unter der üblichen Nummer an, nach den Verkehrsmeldungen sprechen wir weiter …«
Die reden am Thema vorbei, dachte ich. Was für einen Unterschied macht es, Nachbarn zu haben oder nicht, wenn man mit ihnen nichts zu tun haben will?
»… Alan aus Briarstone ist in der Leitung – also, Sie kennen Ihre Nachbarn nicht, stimmt das?«
»Ja, Rob, genau so ist es. Neben mir lebt ein älteres Ehepaar, die reden nicht einmal mit mir. Ich meine, ich habe sie kürzlich gegrüßt, aber sie haben nur genickt, sonst nichts –«
»Alan, vielleicht haben Sie ja darauf gewartet, dass Sie von sich aus mehr sagen? Ältere Leute sind manchmal sehr ängstlich und wissen nicht, wem sie vertrauen können, wissen Sie?«
»Ja, ich weiß, aber dort, wo ich aufgewachsen bin, haben die Leute noch miteinander gesprochen, man war ständig draußen und hat sich unterhalten und so.«
»Und die Leute wohnten auch länger an ein und demselben Ort, das darf man nicht vergessen – heutzutage ist man mobiler, wechselt den Job, vergrößert oder verkleinert sich ständig …«
Ich öffnete die Hintertür, ließ die Katze raus und schnupperte versuchsweise in die Luft. Heute Abend wehte eine leichte Brise, bewegte die Äste der Bäume hinter dem Haus. Dahinter lag die Hauptstraße, dann kam der Friedhof. Ich roch nichts, und einen Augenblick fragte ich mich, ob es nur Einbildung gewesen war, dass ich Sally Burton nebenan gefunden hatte. Der Gestank war verschwunden; alles andere war gesäubert worden, bestimmt von irgendwelchen Gemeindeangestellten, während ich im Büro war. Sie war fort, spurlos verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.
Briarstone Chronicle
Oktober
Frau »seit Monaten tot«
Letzten Freitag wurde die Polizei zu einem Haus in der Newmarket Street in Briarstone gerufen und machte eine schreckliche Entdeckung: die Leiche der 43-jährigen Shelley Burton wurde im Wohnzimmer ihres Anwesens aufgefunden. Ms. Burton lebte allein und war seit Monaten nicht mehr gesehen worden.
Siehe Kommentar Seite 12.
Kommentar der Redaktion
Der Fund der Leiche von Shelly Burton, 43, ehemals Schauspielerin und Model, ist der letzte in einer erstaunlichen Serie von Mitbürgern in Briarstone und Umgebung, die einsam und alleine zu Hause ihrem Ende entgegengingen und über einen längeren Zeitraum unentdeckt blieben.
Ein Armutszeugnis für eine Gesellschaft, in der so viele Menschen ihre Nachbarn gar nicht mehr kennen oder sich blind darauf verlassen, dass andere sich um sie kümmern oder wissen, wo sie gerade sind. Oft gibt es da aber niemanden.
In Einsamkeit sterben – die Schande unserer Gesellschaft
Die zunehmende Anzahl der Leichen im Bezirk Briarstone, die erst lange nach ihrem Tod gefunden werden, hat uns in den vergangenen Monaten alle schockiert. Fest steht, dass der Zusammenhalt der Gesellschaft, der die Briten einst zu einem so stolzen Volk machte, langsam bröckelt. Wir kümmern uns nicht mehr um unsere Nachbarn, sondern sind zu einer Nation von Wegschauern geworden. Wen kennen Sie in Ihrer Straße? Wir waren in Briarstone unterwegs und haben nachgefragt.
»Früher kannte man jeden in der Nachbarschaft«, sagte Stan Goodall, 64. »Man kümmerte sich umeinander. Wusste immer, wenn jemand Hilfe brauchte.«
»Ich kenne meine Nachbarn gar nicht«, sagte eine jüngere Frau, die nicht genannt werden wollte. »Man will unter sich bleiben, und das finde ich auch gut so.«
»Ja, ich habe Angst davor, einsam zu sterben«, sagte Ethel Johns, 78. Sie wirkte gebrechlich, aber gefasst, als wir über die jüngsten Funde sprachen. »Ich kannte Judith Bingham, die letzten März gefunden wurde. Es macht mir Sorgen, dass niemandem aufgefallen war, dass sie sich nicht mehr blicken ließ. Ich finde den Gedanken unerträglich, dass sie die ganze Zeit dort gelegen hat.«
Mr. Alan Wilson, 47, pflichtete ihr bei. »Es ist eine Schande. Wir reden so viel von Gemeinschaftssinn. Das ist doch ein Witz.«
Der Briarstone Chronicle startet eine Aktion, um die Tragödien dieser offenbar ungeliebten Menschen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Es wird Zeit, dass wir uns um diejenigen unserer Nachbarn kümmern, die
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