Wofür du stirbst
dachte, das Haus stünde leer, doch sie war die ganze Zeit über dort.«
»Das muss ja ein traumatischer Anblick gewesen sein«, sagte er.
»Es war schrecklich. Sie war –«
Ich hatte zu viel erzählt. Mir wurde klar, dass mich die Tatsache, dass jemand Interesse zeigte, geschwätzig gemacht hatte. Der Mann vor mir war nicht irgendwer; er war Journalist. Er könnte unsere Unterhaltung sogar aufzeichnen! Daran hatte ich gar nicht gedacht … Wie dumm von mir. Das würde mich meinen Job kosten. Ich konnte gar nicht glauben, dass ich so dumm gewesen war.
»Was?«, fragte er. »Was ist los?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie wirken irgendwie – ich weiß auch nicht. Besorgt.«
Er war auf jeden Fall einfühlsam. Das brachte vermutlich sein Job mit sich: die Fähigkeit, das Unbehagen seines Gegenübers zu erspüren; die Fähigkeit, sowohl sachliche als auch unsachliche Fragen zu stellen; die Gabe, lange Gespräche im Gedächtnis zu behalten und sie dann geschickt so zu interpretieren, dass die Person angeblich das gesagt hat, was man hören wollte, ohne dass sie es tatsächlich ausgesprochen hat.
»Ich sollte jetzt besser gehen«, sagte ich und stand auf.
»Annabel, warten Sie einen Augenblick.«
»Nein, wirklich, danke für den Kaffee, aber ich muss jetzt gehen …«
»Darf ich Sie wiedersehen?«
Ich hielt inne, zog meinen Mantel enger um die Schultern und starrte ihn an. Dieser Satz hörte sich so seltsam an. »Warum?«
Er stand auf und stellte sich mir auf dem Weg zum Ausgang des Cafés in den Weg. »Ich weiß, dass Ihnen die Sache am Herzen liegt«, sagte er. »Ich möchte keineswegs Ihren Job in Gefahr bringen oder Sie bedrängen. Aber egal, was hier läuft, es wird nicht aufhören. Wir müssen etwas dagegen unternehmen, und dafür müssen wir herausfinden, was hier überhaupt vor sich geht. Würden Sie mir dabei helfen?«
Ich biss mir auf die Lippe. Er stand dicht vor mir, was mir gar nicht gefiel. Ich stand in mehrerlei Hinsicht mit dem Rücken zur Wand.
»Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen könnte«, sagte ich. »Ich habe bereits alles versucht.«
»Ich kümmere mich um die unangenehmen Dinge. Ich brauche nur Ihre Daten. Dieselben Daten, die Sie sich schon angesehen haben und mit denen Sie täglich arbeiten. Ich kann die Führungsebene der Polizei unter Druck setzen, indem ich mehr über die beteiligten Personen veröffentliche, und diese Informationen kann ich mir auch woanders holen. Aber ich will wissen, wer die Leichen sind.«
»Das fällt unter den Datenschutz«, sagte ich lahm.
»Aber nicht, wenn sie tot sind«, sagte er. »Das Datenschutzgesetz gilt nach dem Tod nicht mehr.«
»Das weiß ich. Aber es gilt, solange die Ermittlungen noch laufen. Außerdem gilt es für die betroffenen Familien«, sagte ich und versuchte mich irgendwie rauszureden. Doch er kannte sich mit den Gesetzen besser aus als ich. Auf diesem Gebiet konnte ich ihn nicht übertrumpfen.
»Es gibt also eine aktive Ermittlung? Das ist mir neu.«
Er musste mein Unbehagen also bemerkt haben, denn er trat beiseite und ließ mich durch. »Ich bringe Sie noch den Hügel runter, okay?«
Ich murmelte irgendwas, er folgte mir hinaus in das kühle Sonnenlicht auf der Hauptstraße. Auf dem Gehsteig wimmelte es von Leuten mit Einkaufstüten, und obwohl er neben mir ging, wurden wir ständig voneinander getrennt.
»Hören Sie«, sagte er schließlich, als wir um die Ecke in die breite Fußgängerzone bogen, die hinunter zum Fluss führte. »Ich möchte einfach gerne mit Ihnen in Verbindung bleiben. Sie sind der einzige Mensch, der die Sache ernst zu nehmen scheint. Ich habe sogar mit meiner Chefredakteurin gesprochen. Sie hat immerhin diese Aktion ins Leben gerufen, bei der jeder nach seinem Nachbarn sehen soll. Trotzdem denke ich, dass da noch mehr dahintersteckt als einfach nur öffentliches Desinteresse.«
»Was denn?«
»Sie wissen schon. Dass die Leute ermordet wurden.«
Ich blieb wie angewurzelt stehen und sah ihn an. »Ich glaube nicht, dass sie ermordet wurden«, sagte ich.
»Ach ja? Wirklich nicht?«
»Nichts deutet auf Morde hin. Keine Einbrüche –« Bis auf das Nachbarhaus, dachte ich und erinnerte mich an die zersplitterte Glasscheibe in der Küche. »Keine Gewalt, keine brutalen Überfälle. Sie starben einfach so.«
»Vielleicht wurden sie langsam vergiftet«, sagte er, »oder mit dem Gas aus ihren Boilern getötet oder so.«
»Das klingt ein wenig weit hergeholt«, sagte ich. »Und es gibt keine Beweise
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