Wofür es sich zu leben lohnt
ist ihnen der Genuss dieses Fleisches strikt untersagt; aber ebenso wirkt der Sekt, als typisches »Anlassgetränk«, ja auch in unserer Kultur eigentümlich deplatziert und nahezu unappetitlich, wenn man ihn abseits der Anlässe konsumieren möchte. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen – das bedeutet auch, dass man sie sonst eben nicht feiern darf.
Das Fernsehen übt heute, unter der neidvollen Beobachtung der Vertreter der christlichen Religionen, [164] diese Zwänge zur Arbeitsniederlegung wohl am stärksten aus. Insbesondere bei bestimmten Sportereignissen sind Belegschaften und Privatpersonen zum Live-Zusehen verdammt, ob sie wollen oder nicht. Und wenn (etwa bei Olympiaden, die in einem anderen Erdteil stattfinden) die Übertragungen mitten in der Nacht ausgestrahlt werden, dann muss eben mitten in der Nacht ferngesehen werden. Nicht einmal die weit verbreitete Existenz von Videorekordern kann diesem Brauchtum Abbruch tun.
5 .
Man könnte sagen: mehr als die – doch ebenfalls nicht unbeträchtlichen – Zwänge zur Arbeit setzen uns manchmal noch die Zwänge zur Nichtarbeit unter Druck. Diese gehen, wie Bataille bemerkt hat, von der Religion aus:
»Das religiöse Verbot richtet sich grundsätzlich gegen eine bestimmte Handlung, aber es kann dieser Handlung auch einen neuen Wert verleihen. Zuweilen ist es möglich oder sogar vorgeschrieben, das Verbot zu verletzen, es zu überschreiten.« (Bataille 1993 : 74 )
Der von Bataille gebrauchte Begriff der Religion muss hier allerdings – entsprechend unseren Beispielen – in einem sehr weiten Sinn gefasst werden. Denn die Religionen des Sekttrinken- oder Fernsehenmüssens erfreuen sich bekanntlich heute bei uns keiner institutionellen Repräsentanz (etwa in der Form von Kirchen) und keiner personellen Vertreter. Es sind vielmehr Kulte, die sich auf das beziehen, was Michel Leiris als das »Heilige im Alltagsleben« bezeichnet hat (s. Leiris [ 1938 ]).
Wenn wir die Gesamtheit dieser Kulte dementsprechend als »Kultur« bezeichnen, bemerken wir in Batailles Konzeption eine neue, unerwartete Erkenntnis. Bataille zufolge besteht die Kultur nicht – wie oft (etwa in Bezug auf das Inzestverbot) angenommen wurde, aus grundlegenden Verboten. Sie besteht auch nicht in erster Linie aus Anreizen, wie sie Michel Foucault bemerkt hatte. Vielmehr besteht der entscheidende Zug der Kultur, Bataille zufolge, darin, dass sie befiehlt: [165] und zwar befiehlt sie Vergnügen; sie befiehlt: »Trinken!«, »Fernsehen!«, »Spielen!« [166] Gleichsam mit vorgehaltenem Revolver (wenn wir uns an die Unerbittlichkeit ihrer Befehle erinnern) nötigt sie uns zu unserem Genuss: Sie zwingt uns zur Verausgabung – und mithin zur Schönheit.
6 .
Die Revolver der Überschüsse befinden sich in den Händen der Kultur. Sie ist es, die diese Waffen auf uns richtet. Manchmal spüren wir diese Revolver recht deutlich im Rücken. Es kann zum Beispiel vorkommen, dass wir bei einer Wette etwas Geld gewinnen; bezeichnenderweise neigen wir dann oft dazu, diesen Gewinn mit Freunden feiernd zu verzehren oder zu vertrinken. Es erschiene uns problematisch, schändlich oder »ungut«, ihn einfach als Haushaltseinnahme zu verbuchen.
Ebenso verhält es sich bei anderen Überschüssen. Manchmal unterläuft uns ein glücklicher Objektfund. Gemäß der von Susan Sontag im »Camp«-Aufsatz analysierten und inzwischen unter Angehörigen der Popkultur weit verbreiteten Fähigkeit, geschmacklose, kitschige oder subkulturelle sowie auch völlig schmucklose Objekte in den Rang ästhetischer Objekte zu erheben (s. Sontag [ 1964 ]), nehmen wir vielleicht manchmal zum Beispiel eine auf der Straße liegende Radkappe, die ein schräges oder sonstwie ansprechendes Automarken-Logo ziert, mit nach Hause. Auch die schlichten Nothämmer, die früher zum Einschlagen der Fensterscheiben im Notfall in Straßenbahnen angebracht waren, genossen lange Zeit Kultstatus unter popkulturellen Sammlernaturen. Kulturwissenschaftler, die zufällig in der Nähe von Wallfahrtsorten unterwegs sind, versäumen es oft nicht, ihren Kollegen zu Hause eine Plastikmadonna, die mit abschraubbarer Krone auch als praktische Flasche für geweihtes Wasser dienen kann, mitzubringen.
Entscheidend für die Möglichkeit, diese Dinge ästhetisch zu genießen, ist allerdings ein bestimmter Transfer. Meist verschenken wir solche Dinge. Wenn wir sie aber bei uns zu Hause haben, dann beeilen wir uns unseren Gästen gegenüber, zu versichern,
Weitere Kostenlose Bücher