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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Pfaller
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selbst nicht enthalten«. Hier ergab sich eine Antinomie: Entweder diese Menge enthielt sich selbst nicht – dann war sie aber
unvollständig
, da ihr ein Element abging, das sie ihrer Definition nach hätte enthalten müssen (nämlich sie selbst). Oder aber sie enthielt sich selbst – dann aber war sie
widersprüchlich
, denn sie enthielt ein Element, das ihrer Definition nicht gehorchte. Russell verglich dieses Paradox mit dem – seiner Ansicht nach allerdings leichter zu lösenden – Bild eines Friseurs, der die Aufgabe hatte, all jene Männer seines Dorfes zu rasieren, die sich selbst nicht rasierten (s. Russell 1956 : 261 ). Wieder stellte sich die Frage: Darf er sich selbst rasieren? – und es ergab sich die für die Verdoppelung typische, paradoxe Antwortstruktur: Wenn ja, dann nein; und wenn nein, dann ja.
    Russells Lösungsversuch für diese Antinomie war die sogenannte »Typentheorie«, die besagte, dass der rasierte Friseur und der rasierende zwei unterschiedlichen logischen Stufen (bzw. »Typen«) angehören und dass der eine nicht mit dem anderen identifiziert werden darf (s. Russell 1956 : 59 bis 102 ). Friseur 1 und Friseur 2 waren nicht derselbe; insofern kam es zu keiner Verdoppelung, und folglich auch zu keinen Widersprüchen. Auch im Alltag würde das »Barber’s Paradox« nicht als unlösbar erscheinen: Entweder der Friseur rasiert sich schon bei sich zu Hause, als Privatmann; oder er rasiert sich eben später in seinem Geschäft, als professioneller Friseur, vielleicht mit anderen, professionellen Geräten. Da jedoch Mengen und logische Funktionen sich nicht in der glücklichen Lage des Friseurs befinden, einmal in ihrer Privatexistenz und einmal im Berufsgewand auftreten zu können und dadurch unterscheidbar zu sein, musste die Typentheorie mit ihnen strenger sein. Sie bestimmte darum, dass Mengen und Funktionen nicht auf sich selbst angewendet werden dürfen, weil eine solche Verdoppelung in den Widerspruch führt.
    Die entgegengesetzte Position dazu hatte Georg Wilhelm Friedrich Hegel vertreten. Nach seiner Auffassung gerät man gerade dann in den Widerspruch, wenn man es verabsäumt, Begriffe auf sich selbst anzuwenden. So zum Beispiel bei der Unendlichkeit: Wenn man sagt, die Unendlichkeit sei das Gegenteil der Endlichkeit, dann nimmt man ja an, so Hegel, dass die Unendlichkeit genau dort aufhört, wo die Endlichkeit beginnt. Dann aber hat man die Unendlichkeit in ihr Gegenteil verwandelt: Sie ist nun selbst endlich, durch die Endlichkeit begrenzt. [139] Um dem Abgrund dieser »schlechten Unendlichkeit« zu entgehen, muss man, Hegel zufolge, die Unendlichkeit verdoppeln und sie als Gattung der beiden Arten Unendlichkeit und Endlichkeit begreifen – dann hat man die »wahre Unendlichkeit« gedacht, die nicht mehr von einem schnöden Gegenteil begrenzt und damit endlich gemacht wird. Die Verdoppelung ist also notwendig. Um den Widerspruch zu vermeiden, muss die Art zu ihrer eigenen Gattung gemacht und fähig werden, sich selbst zu enthalten.
    Während man allerdings durchaus bezweifeln kann, ob die Unendlichkeit, wie Hegel annahm, selbst unendlich sein muss (schließlich könnte es ja sein, dass zwar manche Dinge unendlich sind, nicht aber die Unendlichkeit selbst; ebenso, wie nach der Bemerkung Spinozas der Kreis rund ist, der Begriff des Kreises aber nicht), [140] scheint es eine Vielzahl von Fällen zu geben, die wenigstens der Struktur seines Arguments recht zu geben scheinen. Ein Beispiel eines solchen Falles liefert die lebenskluge Bemerkung von Blaise Pascal:
    »Die Menschen sind so unfehlbar Narren, daß es einer andersartigen Narrheit wegen närrisch sein hieße, wenn man kein Narr wäre.« (Pascal 1997 : §  412 )
    Wenn die Menschen »unfehlbar«, also notwendigerweise – und das heißt zugleich: auf eine Weise, die einem Gesetz folgt und damit vernünftig ist – närrisch sind, dann ist es noch närrischer, nicht närrisch zu sein: Die größte Narrheit ist dann die Nicht-Narrheit bzw. die Vernunft. Einfach nur vernünftig sein heißt hier also extrem närrisch sein. Ohne Verdoppelung gerät man in diesen Widerspruch. Nur mit Hilfe der Verdoppelung kann man ihn, offenbar wie bei Hegel, vermeiden: Man muss vernünftig genug sein, um nicht einfach vernünftig zu sein; oder: man muss auf vernünftige – und das heißt hier: die Vernunft einschränkende – Weise vernünftig sein. Dies führt allerdings auf den ersten Blick zu einer seltsamen Ausweglosigkeit: Man

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