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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Pfaller
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verbissene Beschäftigung mit der eigenen Identität Ausdruck einer tiefen narzisstischen Unfähigkeit, über den Tellerrand der eigenen Person hinauszublicken und weiter reichende Glücksansprüche zu stellen?
    2 .
    Wie immer liegt die Pointe beim Epiktet nicht (wie bei den idealistischen Stoikern) in der Bescheidenheit, sondern vielmehr, materialistisch, in der
Ernüchterung
. Was Epiktet verdeutlicht ist nämlich, dass auch die schmeichelhafteste Rolle noch gut gespielt werden muss. Das heißt: Es gibt immer eine Diskrepanz zwischen der Person und der Rolle; auch die beste Rolle ist als solche noch nicht wunscherfüllend; man kann sich auch in ihr noch bestens blamieren. Das ist das Ernüchternde.
    Selbst wenn wir alle Heteronomie, die unseren gesellschaftlichen Rollen gegenwärtig noch anhaften mag, eines Tages abgeschüttelt hätten und in der Lage wären, uns selbst neue Rollen sozusagen »auf den Leib zu schreiben«, müssten wir also erst lernen und üben, sie zu spielen. Dieses Moment von »Entfremdung«, von Materialität der Rolle ist »ewig«, »ahistorisch« und darum nicht gemeinsam mit Heteronomie zu beseitigen. Sich daran zu stoßen, ist närrisch und verrät die Unfähigkeit, sich an den Dingen zu stoßen, an denen sich zu stoßen sich lohnt.
    3 .
    Jede Materie bietet aber nicht nur einen Widerstand, sondern auch Möglichkeiten, diesen als Kraft zum eigenen Nutzen zu gebrauchen. Man kann lernen, eine Rolle gut zu spielen, und dann wird man fähig, mit Hilfe der Rolle Dinge zu tun, die man ohne sie nicht tun könnte. Das erfordert allerdings Übung – und es erscheint bezeichnend, dass in einer narzisstischen Kultur wie der unseren fast nichts so verpönt ist wie alles, was Übung erfordert. [152] In den Schulen werden die Werkstätten abgeschafft; an den Kunstuniversitäten die Ateliers; und in den Studienplänen wissenschaftlicher Fächer wird darauf geachtet, dass jedes Semester etwas Neues vorgeschrieben wird, so dass Studierende niemals Gelegenheit haben, auf eine Sache zurückzukommen, um sie mit frischen Augen nochmals zu betrachten: »never ›more of the same‹« war eines der meistrezitierten Mantras der Betreiber der sogenannten Bologna-Reform. Wo man in den Wissenschaften mit einer theoretischen »Konstruktion« auf eine Schwierigkeit stößt, unternimmt man darum hastig eine Neukonstruktion, anstatt zu überlegen, ob man bei geschickterer Handhabung der alten Konstruktion das Problem nicht vielleicht sogar leichter hätte lösen können. [153] Studierende der sogenannten »Humanities« werden hastig mit ständig neuen Inhalten versorgt, anstatt dass man ihnen Gelegenheit gibt, die Wendigkeit ihres Intellekts zu steigern und einmal zu versuchen, eine schon bekannte Theorie auf einen neuen Gegenstand anzuwenden. Im Zug einer vermeintlichen Intellektualisierung ersetzt man in der Kunstausbildung die Auseinandersetzung mit Fragen der Form und des Mediums durch wissenschaftliche Auseinandersetzung und übersieht dabei, dass auch die Wissenschaft selbst ein Medium ist, das man nicht nur kennen, sondern auch durch Übung beherrschen lernen muss. Wie in der Identitätspolitik versucht man auch in der Ausbildung und Handhabung von Künsten und Wissenschaften alles auf einen einzigen Faktor zu reduzieren – alle Anstrengung richtet sich auf das gute Wissen; nicht aber auf den Witz seiner Anwendung auf das noch Ungewusste. Man übersieht dabei, dass auch die wissenschaftliche Arbeit, wie die materialistischen Philosophen lehrten, [154] eine materielle Praxis ist und darum einen Parameter wie Geschicklichkeit oder Geschmeidigkeit kennt. Man achtet nur auf eine einzige Größe und nicht auf eine günstige Proportion von zweien, vergleichbar zum Beispiel dem Leistungsgewicht von Sportwagen.
    Demgegenüber hatte Michel de Montaigne, der Figur der Verdoppelung folgend, bemerkt: »Die Weisheit neigt auch zum Übermaß und bedarf der Mäßigung nicht weniger als die Tollheit.« (Montaigne 1996 : 77 ; vgl. 1998 : 105 ff.) Auch bei der Weisheit muss dem Adjektiv das Adverb vorangehen: Man muss also – was im Deutschen freilich seltsam klingen kann – auf weise Art weise sein. Das muss die Universität die Studierenden lehren; das heißt: Sie muss es sie erkennen lassen und ihnen Gelegenheit geben, sich darin zu üben, dem Adjektiv das Adverb voranzustellen.
    Andernfalls produziert man, wie Montaigne formulierte, nur »vollgestopfte«, aber nicht »wohlgeratene«, bewegliche Köpfe (s. Montaigne 1996

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